Laterne boykottiert

Es gibt illegale Galerien der späten DDR-Zeit, die nach der Wende ihren Underground-Nimbus erfolgreich für eine Karriere auf dem nun ganz und gar offenen Markt nutzen konnten. Judy Lybkes Leipziger Eigen+Art ist das beste Beispiel dafür. Während Lybke aber ein sicheres Gespür für neue Talente und Trends hat, verwechselt die Chemnitzer Gruppe „Clara Mosch“ das ewige Ausstellen von Stasiakten mit Kunst. Dabei gab es in den 1980ern ebenda in Karl-Marx-Stadt eine weitere Ausstellungsfläche abseits des reglementierten Künstlerbundes. Andreas Schüller öffnete sein Atelier in einer Bruchbude an der Fritz-Reuter-Straße für befreundete Künstler, von denen manche heute auch überregional einen Namen haben. Natürlich schrieben auch darüber etliche IMs Berichte. Dass bislang trotzdem kaum jemand über diese eigentliche Szene hinaus Kenntnis davon hatte, liegt wohl an Schüllers Bescheidenheit und seinem Mangel an Vermarktungstalent. Nun widmet sich die Galerie Laterne diesem Stück lokaler Kunstgeschichte mit einer sehenswerten Ausstellung und einem ebenso guten Katalog. Dass der Name „Galerie Boykott“ ein nachträgliches Konstrukt ist, stört dabei überhaupt nicht.

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Zitat des (vorigen) Jahrtausends

Nichts belehrt und erhebt mehr zur Gottesfurcht und zum heiligen Dienst als Leben und Vorbild jener, die sich dem heiligen Amte geweiht haben. Sobald sie nämlich in einen Stand über den weltlichen Dingen erhoben sind, richten alle übrigen auf sie ihre Blicke wie auf einen Spiegel und nehmen sie zum Vorbild, dem sie nacheifern sollen. Daher müssen die Kleriker, denen es bestimmt ist, ihr Leben mit dem Herrn zu teilen, ihr Leben und ihr ganzes Verhalten so einrichten, daß sie in ihrer Kleidung, ihrem äußeren Auftreten, ihrem Handeln, ihren Reden und in allem Übrigen nichts als Ernsthaftigkeit, Zurückhaltung und der Religion Gemäßes an den Tag legen.

Erlass des Tridentinischen Konzils vom 17. September 1562

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Gut gewedelt

Angesichts unseres Weihnachtsgrußes kamen ja gleich zwei Kommentare, ob das bei Wag the Dog abgeguckt sei. Da ich mit diesem Filmtitel nichts anfangen konnte, war Udo Tiffert so nett, das Werk beim vorletzten Livelyrix-Slam mal mit nach Leipzig zu bringen. Unterdessen hat es die ganze Familie mit größtem Vergnügen angeschaut.

Jedem, der wie ich den Film noch nicht kannte, sei ein Gang in seine Videothek des Vertrauens empfohlen. Dustin Hoffman und Robert de Niro in den Hauptrollen inszenieren da einen Krieg gegen Albanien, um kurz vor der Wahl von einer sexuellen Verfehlung des US-Präsidenten abzulenken. Zwar findet der Krieg nur im Fernsehn statt, doch die sorgfältig inszenierte Massenhysterie erinnert ganz stark an reale Nachrichten aus Gottes eigenem Land. Wenn man das Produktionsjahr 1997 berücksichtigt, ist Wag the Dog geradezu prophetisch. Und so ganz nebenbei weiß ich nun eben auch, woher die seltsame Mode der Shoefitties stammt.

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Leuchtender Tag

Bisher hatte ich nur einmal das Erlebnis, dass ich spontan dachte: „Chemnitz ist schön!“. Das war vor vielen Jahren, als ich durch die Innenstadt von Offenbach am Main schlenderte. Heute gab es nun eine Parallelerfahrung: Wir waren in Wolfburg.

Für den Trip hatten wir uns den perfekten Tag ausgewählt – drei Stunden schlittern auf schneeglatter Autobahn, vorbei an kilometerlangen Staus in der Gegenrichtung. Aber die Ausstellung von James Turrell, unser eigentlicher Anlass der Reise, geht eben nur noch bis Anfang April und alle anderen Wochenenden sind ausgeplant.

Turrells Lichträume im Wolfsburger Kunstmuseum sind wirklich sehr beeindruckend (auch wenn es gern etwas mehr davon sein dürfte). Für mich ist das eines der ganz, ganz wenigen Beispiele, wie minimalistische Konzeptkunst gut sein kann und sich nicht in ewigem Durchkauen der gleichen uralten Gedankenblitze erschöpft.

Nach diesem inneren Leuchten dann die eingangs benannte Erleuchtung in der innerstädtischen Fußgängerzone von Wolfsburg. Übrigens stellten wir dann fest, dass die Turrell-Ausstellung bis Oktober verlängert worden ist.

Impression vom Wolfsburger Rathausplatz

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Zitat Ende

Über die Kunst des Abschreibens wird ja gerade heftig diskutiert, vor allem jenes ohne Quellenangabe. Doch auch bei korrekter Angabe der Vorlage kann man zu anderen Aussagen kommen als im Ursprungstext. Die in Chemnitz erscheinende Freie Presse macht es gerade vor. Gute Noten für Chemnitz ist ein Artikel überschrieben, in der ein Oldschool-Wirtschaftsforscher der Stadt bessere Entwicklungschancen als Dresden und Leipzig gibt. Weiterlesen

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Käferfrei

Obwohl ich mit vollelektronischer Musik überhaupt nichts anfangen kann und meine Kenntnisse neuzeitlicher Kommunikationstechnologie eher oberflächlich sind, habe ich in den letzten Monaten mehrfach das Journal de:bug.elektronische lebensaspekte erworben, das sich im (zweiten) Untertitel auch Magazin für Musik, Medien, Kultur, Selbstbeherrschung nennt.

Gestern habe ich die Märzausgabe gekauft und während der Zugfahrt nach Chemnitz und zurück gleich konsumiert. Größtenteils zumindest. Die Plattenkritiken und Musikerporträts sind nun tatsächlich nicht meine Schiene. Aber es gibt ja auch einen großen thematischen Teil, der ist diesmal Weiterlesen

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Schwarzblasen

Vielleicht 200 Leute waren es in Leipzig auf dem Markt, in anderen Städten Sachsens weitere, die in (überwiegend) schwarzer Kleidung Seifenblasen aufsteigen ließen. Gedacht war der Flashmob, der heute genau 16.16 Uhr startete, als Protest gegen die Kürzung der Jugendhilfe um pauschale drei Prozent im ganzen Freistaat seitens des Dresdener Sozialministeriums. Geplatzte Träume als Symbol – doch träumen kann in dieser Sparte schon lange keiner mehr.

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Schein und Sein

Beim kürzlich erfolgten Zusammentreffen mit einer mir noch unbekannten Person dachte ich zunächst: Ziemlich unscheinbar. Doch dann fielen mir markante Züge auf. Ist der Mensch nun scheinbar, wenn er nicht unscheinbar ist? Anscheinend.

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Starkes Stück

Etwas eigenartig mag es erscheinen, der Frau zum Hochzeitstag Mein Kampf zu schenken. Es war aber nur eine Karte für die gleichnamige Farce von Geoge Tabori am Theater der Jungen Welt. Und das hat sich gelohnt – Inszenierung, Schauspieler, das Stück sowieso – alles ganz stark! Nächste Vorstellungen: 26. Februar, 1. März. Mehr dazu schreibe ich für ein Leipziger Monatsblatt, darum hier diese Kürze. Die Zeitungen lieben keine privaten Vorveröffentlichungen.

Nachtrag 24. März: Da der Artikel nun schon seit einer Weile veröffentlicht ist, kann ich ihn hier nun bringen:

Monster küsst man nicht

„Mein Kampf“ am TdJW

„Deine Handreichungen gefallen mir, Jude“, sagt Adolf Hitler zu Schlomo Herzl, „ich werde dir später einen Ofen kaufen.“ Darf man Witze machen über den schlimmsten Massenmörder aller Zeiten? Diese Frage wird seit Chaplins „Der große Diktator“ diskutiert. Dabei gibt jener A.H. in George Taboris Farce „Mein Kampf“ zu: „Ich mag keine Witze, ich kann mir die Pointe nicht merken.“ Ein feines Gespür für die Pointe hat allerdings Frau Tod, wenn sie meint, dieser Typ tauge nicht als Opfer, sondern als Vollstrecker.

Jürgen Zielinski hat das Stück am Theater der Jungen Welt mitreißend inszeniert. Der erste Teil vor der Pause ist ganz so, wie die Genrebezeichnung es ausdrückt – eine Farce. Der Hampelmann aus Braunau am Inn ist in einer schäbigen Wiener Absteige gelandet, weil er sich mit seinen rührseligen Aquarellen an der Kunstakademie bewerben möchte. Dass er dort in Unterhosen vortanzt, weil Herzl noch mit dem Annähen eines Knopfes an seiner Kniehose beschäftigt ist, gehört zu den Pointen, die er zu spät versteht.

Zielinski arbeitet mit grellen Effekten – ein lebendes Huhn, ein noch lebendigeres nacktes Mädchen, tote Schweinehälften an einer Seilbahn über die Bühne schwebend. Und er arbeitet mit hervorragenden Schauspielern, vor allem Stephan Wolf-Schönburg als Herzl, Sven Reese als Hitler und Anna-Lena Zühlke als Gretchen.

Im Schlußteil bleibt das Lachen immer mehr im Halse stecken. Die echten Schlächter, die ebenfalls in Frau Merschmeyers Etablissement hausen, sind nette Leute im Vergleich zu Hitlers Mitkämpfern wie Himmlischst, der das Landhuhn Mizzi ganz professionell zerlegt und brät. Der ansonsten so schlaue Schlomo hingegen glaubte all zu lange, Freundlichkeit oder gar Unterwürfigkeit sei die richtige Taktik. Sein Ratschlag für den verhinderten Kunstmaler Hitler: „Geh doch in die Politik!“ rächt sich. Leute, die nichts anderes richtig können, sollten nie Politiker werden. Eine grausame Erfahrung muss auch das verführerisch-verführbare Gretchen machen. Chuzpe allein reicht eben nicht als Waffe gegen Psychopathen, die nach der Macht greifen, Mitläufertum noch weniger. So bleibt wohl als wichtigste Aussage in dem völlig antiplakativen Stück, dass man die Leute lieber nicht daran hindert, schlechte Kunst zu machen. Das ist erträglicher, als der Griff nach der Weltherrschaft.

Da die Inszenierung am TdJW aber sehr gute Kunst ist, sollte man Karten für einen Besuch der nächsten Aufführungen besser vorbestellen.

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Mysterien des Alltags 2

Die CD als Tonträger ist ja fast schon wieder vom Aussterben bedroht. Gerade darum ist es für mich unerklärlich, warum es die Industrie in der ganzen Lebenszeit dieser Silberscheibe nicht geschafft hat, Plastikhüllen dafür zu produzieren, die auch nach dem zehnten Benutzen noch noch alle Zacken in der CD-Halterosette haben und beide Nippel des Scharniers besitzen. Das scheint eine unlösbare Aufgabe zu sein. Zwar gibt es auch Blech- oder Papphüllen, und ästhetisch gefallen die mir zumeist auch besser, aber häufig kann man nicht wählen, in welchem Material man die die neusten Hits von Beethoven, Schönberg oder Jagger nach Hause trägt. Und dieses blöde Dings, dass auch noch den hochtrabenden Namen Jewel Case trägt, geht garantiert bald kaputt.

Nein, es ist unmöglich, dass 1969 Amerikaner auf dem Mond waren. Die Menschheit ist viel zurückgebliebener als gemeinhin behauptet.

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