Abwicklungshilfe

Drei Wochen lang war die Bundesregierung sprachlos angesichts der Bemühungen der Ägypter, den Diktator loszuwerden. Nun aber verspricht sie Hilfe – beim Verfassen einer neuen Verfassung. Da hat man ja Erfahrung. Seit 1949 galt in der alten BRD ein Provisorium ohne Absegung des Volkes, und auch nach dem Beitritt der DDR änderte sich daran nichts. Auch der Fakt, dass es eine der wenigen Verfassungen mit Gottesbezug ist, dürfte bei den Muslimbrüdern auf Interesse stoßen.

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Edit hat abgenommen

Die Verkäuferin in der Bahnhofsbuchhandlung meinte, dass der Zeitung der Umschlag abhanden gekommen sein müsse, der Buchblock zeigt die nackte Klebebindung. „Nee, das soll so sein, ist Kunst“, klärte ich sie auf. Die Leipziger Literaturzeitschrift Edit kommt eben seit einem reichlichen Jahr in diesem reduktionistischen Outfit daher. Und nun ist sie auch noch dünner geworden. 66 zu 94 lauten die Maße der gegenwärtigen Ausgabe 53 gegenüber ihrer Vorgängerin. Aber etwas an Masse zu verlieren ist ja nicht immer schlecht.

Tatsächlich ist gleich die erste Geschichte im Heft, „Das fünfte Kind“ von Johanna Maxl, ein Knaller. Ein Kind macht sich auf die Suche nach einem weiteren Geschwisterchen, das die dicke Mutter angeblich „verloren“ hat. Der Fahrtstuhl-Exhibitionist und der Hochhaus-Säufer helfen bei der Suche. Ein toderster Stoff wird hier eigenartig versponnen und poetisch erzählt.

Eine düstere, aber nicht depressive, Grundstimmung haben auch andere Prosatexte in Edit 53, so Roman Pascal Widders „Die Seltenheit des Wiederkäuens beim Menschen“ – die Beschreibung einer seltsamen Krankheit – oder Hinrich von Haarens Bericht über einen verdämmerten Urlaub auf Skye.

Die Gedichte im Heft sind angenehm vielgestaltig: selbstreflexiv bei Elke Erb, exzessiv neologistisch bei Dagmara Kraus oder symbolistisch verspielt bei Matthea Harvey (trotz des Titels „The Future of Terror“). Essays über Karl Valentin von Ulrike Draesner und über das Schlafen von Anna-Elisabeth Meyermachen die Sache rund.

Der Grafikteil in aggressivem Schwarzrot und expressiver Gestik kommt diesmal von…, ja von wem eigentlich? Man muss etwas suchen, um Ivonne Dippmann als die Urhebin festzumachen. Schade, dass zu diesem wichtigen Part nicht auch paar Worte geschrieben wurden. Und schade auch, dass bei einer Grafik das eigentliche Motiv genau im Heftbund verschwindet.

Trotzdem: Die Diät hat Edit gut getan, finde ich.

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Spirituelle Hülsenfrucht

Nicht in jedem Falle ist das Umsichgreifen von Anglizismen frevelhaft, es hat manchmal auch sein Gutes. Täglich komme ich an einer Hauswand vorbei, an der eine Firma namens „Lensspirit“ in großen Lettern für sich Werbung macht. Unvorstellbar, stünde da LINSENGEIST.DE!

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Brechen ja, aber keine Tabus

Auch wenn vermutlich die meisten Leute, die Sarrazin lauthals zustimmen, sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ nicht selbst gelesen haben, wird dies insbesondere den Kritikern vorgehalten. Geradezu satirisch wirkt es, wenn die BILD-Leser skandieren: Recht hat er, die Deutschen werden immer dümmer! Ich habe es nun gelesen, mit einiger Mühe, kann mir also ein Urteil bilden. Und das fällt nicht gut aus. Weiterlesen

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Reude schöner Götterfunke

aus: Die Zeit, 03/2011

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Raumgreifend

Als ich am Donnerstag bei einer Ausstellungseröffnung in der Kunsthalle der Sparkasse Leipzig nach den Toiletten suchte, geriet ich in den Untergrund des Gebäudes. Da stand an einer Tür „Interaktiver Raum“. Womit mag er wohl interagieren? Etwa mit der Zeit? Mit anderen Räumen? Oder gar mit Menschen?

Wahrscheinlich war die Tür abgeschlossen, aber ich hatte auch etwas Angst, zu klinken.

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Präsidentendämmerung

Etwas erstaunt war ich schon, als vorige Woche die Fernsehbilder wütende Menschen auf den Straßen tunesischer Städte zeigten. Vor kaum drei Monaten waren wir dort, zum ersten Mal Urlaub in einem arabischen Land. Da erschien alles ruhig, ziemlich gelassen. Klar, an jeder Straßenecke ein Standardbild des ewigen Präsidenten, die Hand aufs Herz gelegt. Und sehr viel Polizei, die auch ständig irgendwen kontrollierte. Ein Taxifahrer, der wie die meisten etwas Deutsch sprach, sagte auf unsere Frage nach dieser Präsenz der Staatsmacht, dass dies gut sei. Das verhindere Terrorismus. Unbekannten Touristen würde ich auch nichts anderes erzählen. Und nun ging es ganz schnell, dass Ben Ali sich abgesetzt hat. Ich hoffe, in das Machtvakuum stoßen nicht islamistische Hardliner. Dann hätte sich der Aufruhr nicht gelohnt.

Ben Ali auf der Avenue in Tunis, die nach seinem Vorgänger benannt ist, den er mit einem Putsch stürzte.

Ben Ali auf der Avenue in Tunis, die nach seinem Vorgänger benannt ist, den er mit einem Putsch stürzte.

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Preiswert

Selten lasse ich mich von Preisvergaben bei der Auswahl meiner Lektüre beeinflussen. Nun habe ich aber doch ein Buch mit dem Aufkleber Georg Büchner Preis 2010 gekauft und gelesen. Es ist nicht das frischeste von Reinhard Jirgl, sondern der schon 2005 erschienene Roman Abtrünnig.

Erste Auffälligkeit ist die seltsame Orthografie. Wenn man da in WORD nicht die automatische Rechtschreibediktatur ausgeknipst hat, dreht der Schreiber am Rad. Es scheint nicht gerade das Lesen von 540 dichtbedruckten Seiten zu erleichtern, dass in der Manier Arno Schmidts die Sprache geschreddert wird. Und nötig wäre es auch nicht, wird doch auch ohne diese vordergründigen Effekte deutlich, dass Jirgl eine hohe Sprachbeherrschung hat. Doch man gewöhnt sich schnell an die seltsamen Schreibweisen. Häufig ist es nur Spielerei, doch Schöpfungen wie Tonphall, Legislateniker oder Hohn-oh-rar legen verborgene Bedeutungsschichten frei. Und die Ausrufe- oder Fragezeichen vor den Wörtern haben sogar eine sinnvolle dramaturgische Funktion.

Zwei Männer lassen sich von der Gravitationskraft Berlins einfangen. Eigentlich sind es aber Frauen, deren Weg in die Hauptstadt sie hinterherstolpern. Sehr spät im Buch trifft man auf die im Startkapitel als zweiten Haupthelden eingeführte Figur. Und nicht für lange. Im Vordergrund steht vielmehr ein aus dem Wendland stammender verkrachter Journalist, nebenbei halbtrockener Alkoholiker. Doch mit der Psychotherapeutin, die er beim Entzug kennengelernt hat, wird er auf Dauer in Berlin trotz oder wegen ihrer freizügigen Lebenseinstellung nicht auf Dauer froh. Sogar seine strenge Ex-Frau taucht in Träumen und im realen Leben wieder auf.

Eigentlich könnte der Stoff auf der Hälfte des Platzes ausgebreitet werden. Doch Jirgl beherrscht das Drumherumreden so gut, dass keine Langeweile aufkommt. Politisierende oder vulgärphilosophische Einschübe reichern den Inhalt an, wären aber verzichtbar. Man kann den Text wegen seiner spezifischen Struktur auch wie ein langes, sehr langes Prosagedicht lesen.

Letztlich funktioniert die dramatische Zuspitzung hervorragend. Nach all den Pirouetten und Abschweifungen explodieren die Konflikte, die lange Zeit auf kleiner Flamme schwelten. Gute Literatur also. Preiswert.

Reinhard Jirgl

Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit

München: dtv 2008

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Vasilopita

In Griechenland ist es am Neujahrstag Brauch, einen Kuchen für den Hl. Basilius zu backen – Vasilopita. Vor dem gemeinsamen Verzehr wird der Kuchen aufgeteilt. Jedes Familienmitglied, auch bei Abwesenheit, bekommt ein Stück zugewiesen, außerdem Jesus Christus sowie das Wohnhaus. In wessen Stück sich die in den Teig gerührte kleine Münze befindet, der wird das ganze Jahr lang Glück haben. Meine griechische Verwandschaft aus Dresden hat mich per SMS informiert, dass diesmal der Cent in meinem Stück Kuchen war. Das passt mir gut ins Konzept. Ich frage mich nur, wie das aussieht, wenn Jesus mal Glück hat. Fällt dann Ostern aus?

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Lob des Blitzeises

Blitzeis macht den gebräunten Schnee von gestern

nicht ansehnlicher, veredelt nur mit Firniss

für eine eilige Vernissage,

fügt Ecos Geschichte der Hässlichkeit

oberflächlich neue Aspekte hinzu.

Böllerbatterien mit Burnout-Syndrom schreien nicht mehr: Guten Rutsch!

Gammeln nur noch rinnsteinwärts.

Bus- und Bahnpiloten schreddern Fahrpläne

in fröhlicher Anarchie.

Wartekollektive feiern unerwartet Höhepunkte, kommen sie doch noch.

An jeder Kreuzung ein geknautschtes Konjunkturpaket,

die Kurse von Daimlervolkstoyotafiat steigen.

Speditionen spendieren Aussatz,

Geschäfte kriegen heute nichts Unverkäufliches.

Postboten liefern keine Mahnbriefe aus.

Bringdienste bringen´s heut nicht.

Gebrochene Hände produzieren keine überflüssigen Badeanzüge.

Gebrochene Füße latschen nicht in dröge Büros.

Gebrochene Schädel verzapfen keine Sinnloslyrik.

Und gebrochene Herzen. Sowieso.

Wenn schon Krieg – zeitweilig – nicht salonfähig ist,

dann wenigstens Blitzeis!

Spart man sich auch die Tribunale danach.

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