Brechen ja, aber keine Tabus

Auch wenn vermutlich die meisten Leute, die Sarrazin lauthals zustimmen, sein Buch „Deutschland schafft sich ab“ nicht selbst gelesen haben, wird dies insbesondere den Kritikern vorgehalten. Geradezu satirisch wirkt es, wenn die BILD-Leser skandieren: Recht hat er, die Deutschen werden immer dümmer! Ich habe es nun gelesen, mit einiger Mühe, kann mir also ein Urteil bilden. Und das fällt nicht gut aus.

Sarrazin beginnt mit einem Taschenspielertrick – er listet zunächst mal die Tabus auf, die er scheinbar bricht. Das ist marketingtechnisch immer günstig, stellt man sich doch als den Rebellen dar, und meint, damit zugleich Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die allgemein als „Gutmenschen“ gebrandmarkten Widersacher verhindern angeblich bisher jede Debatte über das Schulsystem ebenso wie über die Zuwanderung. Bis dann der mutige Sarrazin kommt und endlich mal Klartext redet. Dass schon seit vielen Jahren über diese Themen gestritten wird, nur eben nicht immer mit Schaum vorm Munde, fällt bei dieser Argumentationsweise unter den Tisch. Für BILD-Leser ist es so einfacher verständlich. Und die bekennenden Nichtgutmenschen von ganz rechts können Beifall klatschen, obwohl Thilo S. ja immer noch SPD-Genosse ist.

Im ersten Abschnitt bemüht sich der promovierte Volkswirt um einen theoretischen Überbau. Das ist wohl der Teil des Buches, der in der öffentlichen Debatte am wenigsten reflektiert wird. Soweit es seine historischen Exkurse betrifft, geschieht diese Ignoranz ganz zu recht. Ernst nehmen kann man die Streiflichter tatsächlich nicht. Sarrazin stellt in aller Kürze einige mehr oder weniger erfolgreiche Staatsmodelle der Vergangenheit vor, das ägyptische Reich der Pharaonen etwa oder das römische Kaiserreich, welches die Instabilität der Republik endlich beendete. Nicht aber das arabische Reich des Mittelalters, das würde nicht zu späteren Kapiteln passen. Liest man die Skizzen, muss man zum Schluss kommen, dass Sarrazin Gesellschaftsformen bevorzugt, an deren Spitze ein Herrscher von Gottesgnaden steht. Diese Folgerung spricht er allerdings nicht aus. In der Konsequenz müsste er dann ja schließlich auch ein Anhänger der iranischen Ajatollahs sein.

Eine Annahme schält sich aber schon in diesem dürftigen ersten Kapitel heraus, die Grundlage für sein ganzes Denken und Argumentieren ist – er betrachtet Staaten und Völker als etwas sehr Dauerhaftes, also auch „Deutschland als Land der Deutschen.“ (S. 18) Etwas mehr geschichtliche Vertiefung müsste zutage befördern, dass genau jenes Deutschland eben nicht seit tausend oder mehr Jahren festgefügt mit einer bodenständigen, homogenen, deutsch sprechenden Bevölkerung in der Mitte Europas steht, sondern ein historisch ganz junges Gebilde ist, mit vielen Zufälligkeiten behaftet wie etwa dem Ausschluss Österreichs. Diese Jugend ist aber kein Hindernis für eine schon wieder einsetzende Auflösung im Zuge der Globalisierung. Beides ist für Sarrazin unerträglich – der Gedanke, dass es Deutschland nicht schon immer gab, und der Gedanke, dass es vergänglich ist. Die gesellschaftliche Starrheit überträgt er dann auch auf Gruppierungen innerhalb eines Landes. „Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe impliziert folgerichtig die Abgrenzung zur anderen.“ (S. 255) Das erklärt er mit Fußballfans – wer Schalke liebt, muss eben Bayern hassen. Genau auf diesem Niveau bewegt sich seine Argumentation. Er sollte sich mal mit Einwanderern unterhalten, die integriert oder gar assimiliert sind. Kaum einer von ihnen fühlt sich ausschließlich als Deutscher oder Nichtdeutscher, sondern ist praktisch immer emotional zerrissen.

In den folgenden Kapiteln breitet er dann die Reizthemen aus, die für die heftigen Diskussionen der letzten Monate gesorgt haben: erstens die Verfestigung einer dummen, arbeitsscheuen aber gebärfreudigen Unterschicht und zweitens die Gefährlichkeit der Ausbreitung einer mit den gleichen Merkmalen behafteten islamischen Bevölkerung in Deutschland. Über die Stichhaltigkeit seines umfangreichen Zahlenmaterials, mit dem er dies zu beweisen versucht, ist schon viel geschrieben und gesprochen worden. Auf jeden Fall geht Sarrazin sehr geschickt vor. Da gibt es pauschalisierende Aussagen nach dem Muster: „Die Abhängigkeit von staatlichen Transfers ist oft begleitet von einem niedrigen Niveau allgemeiner und beruflicher Bildung, von Suchtverhalten und von persönlichen Defiziten unterschiedlichster Art.“ (S. 113) Oder: „Die Fremden, die Frommen und die Bildungsfernen sind in Deutschland überdurchschnittlich fruchtbar. Im Falle der muslimischen Migranten sind die drei Gruppen weitgehend deckungsgleich.“ (S. 372) Für solche Sprüche lieben ihn die Nationalisten. Dann aber baut er durchaus Differenzierungen und Relativierungen ein. Diese werden von seinen Fans gern überlesen, er kann sie aber den Kritikern entgegenhalten.

Sarrazin arbeitet nicht nur mit Statistiken, sondern auch mit plastischen Beispielen. Fast jeder kann da Beispiele aus seinem Umfeld erkennen und sich sagen: Stimmt ja! Es gibt sie wirklich, die Leute, die sich gemütlich in Hartz IV einrichten und deren Kinder auch nichts anderes anstreben. Zynisch sind aber die Verallgemeinerungen solch einer Haltung ebenso wie der Ratschlag, sich warm anzuziehen als die Heizung im Winter aufzudrehen.

Neben der Grundthese von der ehernen Nation bedient Sarrazin zwei weitere verbreitete Klischees. Eines ist die Legende von der uneingeschränkten Durchlässigkeit der modernen Gesellschaft. Wer klug, fleißig und strebsam ist, wird in der sozialen Rangleiter zweifellos aufsteigen. Und wer das eben nicht ist bleibt unten oder, falls er in höhere Kreise hineingeboren wurde, sinkt ab. Dieses Märchen predigt er immer wieder, belegt es aber im Unterschied zu vielen weiteren Behauptungen kaum mit nachprüfbarem Material.

Ein weiterer immer wiederkehrender Topos ist der Wert der Arbeit an sich. Hier pflegt er ein calvinistisch anmutendes Ethos des unermüdlichen Schaffens, das noch hundertprozentig in der fordistisch organisierten Produktion verhaftet ist. Früh um sechs aufstehen, in die Fabrik oder das Büro gehen, die auferlegten Pflichten sauber abarbeiten, nach Hause gehen. Ob dabei was Sinnvolles rauskommt, ist nebensächlich. Den sozialen Wert diese Schemas kann er nicht hoch genug loben. Jeder, der (reguläre) Arbeit hat, sei angeblich von einem inneren Stolz erfüllt, den ein Arbeitsloser oder so ein neumodischer Kreativling nie haben könne. Zwar erwähnt Sarrazin an einer Stelle mal, dass der Club of Rome schon in den 1970er Jahren auf Grenzen des Wachstums hingewiesen habe, ohne aber weiter darauf einzugehen. Es ist nicht der einzige Punkt, wo er meint, mit dem bloßen Benennen von Gegenargumenten diese auch schon widerlegt zu haben. Und zu der Annahme, bezahlte Tätigkeit an sich sei erfüllend, möchte ich ihm der Film „Temroc“ heiß empfehlen. Michel Piccoli hätte Leute wie ihn einfach zum Abendbrot gegrillt.

Wahrscheinlich kann man für jede Theorie Statistiken finden, die das zu bestätigen scheinen. Doch sogar bei den angeführten Fakten geht Sarrazin noch selektiv vor. So behauptet er anhand der Pisa-Studien, Länder mit „homogener“ Bevölkerung wie Finnland seien per se besser in der Bildung. Das gute Abschneiden des Einwanderungslandes Kanada erklärt er mit der strikten Auswahl der Migranten. Warum aber Holland auf den vorderen Plätzen landet, lässt er besser ganz unter den Tisch fallen. Gerade als ich mir notiert hatte, dass man mit seiner Methode sicherlich auch die Unfähigkeit der Ostdeutschen stichhaltig beweisen könne, kommt es: „Wer dagegen etwas geschenkt bekommt,“ meint er im Hinblick auf uns Unproduktive „ist höchstens oberflächlich und zumeist gar nicht dankbar.“ Danke, Thilo! Eignet man sich Sarrazins Vorgehensweise an, was so schwer nicht ist, kann man auch unwiderlegbar die Minderwertigkeit von Frauen nachweisen. Seit Jahrzehnten schon bemühen sich gutmeinende Männer um ihre Emanzipation. Doch sie kriegen es nicht gebacken, in breiter Front zum Gipfel der Gesellschaft aufzusteigen.

Häufig wird behauptet, Sarrazin hätte mit „Deutschland schafft sich ab“ überfällige Diskussionen angestoßen. Dies sei wichtig, auch wenn man ihm nicht zustimmt. Das kann man auch genau andersrum sehen. Es gibt in dem Buch, speziell zur Bildungspolitik, viele vernünftig klingende Vorschläge wie beispielsweise die starke Förderung von Ganztagsschulen, Schuluniformen oder auch Kindergartenpflicht für Nachwuchs sozial Schwacher. Gerade weil das vernünftig ist, haben es schon vor ihm viele Leute zum Thema gemacht. Nun wird es hingegen schwerer, dem zuzustimmen. Dann gerät man in Gefahr, als Sarrazin-Anhänger betrachtet zu werden. Egal ob das anerkennend oder abschätzig gemeint ist, ich möchte es auf keinen Fall sein.

Dieser Beitrag wurde unter kritik, politik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

5 Antworten auf Brechen ja, aber keine Tabus

  1. udo-neiße sagt:

    sehr interessanter beitrag!

  2. GH sagt:

    Jürgen Winkler hat sich auch mal hingesetzt:

    http://www.messitschbyburns.de/archives/846

    GvH

  3. Gerd sagt:

    Seltsam, nach jeder rezension hat man mehr das gefühl, dass buch auch mal lesen oder zumindest anlesen zu müssen, um nicht ein weiterer schimpfer (welcher seite auch immer) zu sein, der es nicht gelesen hat.

    Gute, interessante Rezension, einzige Anmerkung – der Film mit Michel Piccoli heißt nach seinem Hauptcharakter Themroc.

  4. Pingback: Krauses Freiheit | Jens Kassner

  5. Pingback: mit rechten reden? | Jens Kassner

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.