Ein Jahrzehnt

Vor zehn Jahren, am 1. Februar 2006, übergaben wir unsere Wohnung in der Haydnstraße im Chemnitzer Stadtteil Kappel, setzten uns an diesem eisigen Wintertag ins Auto und fuhren nach Leipzig. Angekommen. Nach 18 Jahren in Karl-Chemnitz-Stadt.

Nach dem Studium war ich gemäß DDR-Gepflogenheiten dahin „vermittelt“ worden. Unter den vorgeschlagenen Alternativen, Merseburg und Magdeburg gehörten noch dazu, schien mit die Stadt mit dem Nischel als das kleinste Übel. Mit der Arbeit an der Dissertation zur Chemnitzer Architekturgeschichte im frühen 20. Jahrhundert lernte ich die Stadt besser kennen als die meisten Eingeborenen, was sich später in mehreren Büchern und Aufsätzen niederschlug. Tätigkeiten beim Kunstsammler Georg Brühl und in der Neuen Sächsischen Galerie brachten mich der lokalen Kunstszene näher. Fast fünfzehn Jahre lang schrieb ich monatliche Ausstellungskritiken für das Journal Stadtstreicher, manchmal auch für die Freie Presse, wenn ich da nicht gerade wieder mal in Ungnade gefallen war. Und durchschnittlich einmal im Monat wurde ich angefragt, zu einer Vernissage eine Rede zu halten. Während in Leipzig zumeist die Tür der Galerie aufgeschlossen wird, damit die Ausstellung eröffnet ist, läuft das in Chemnitz noch ganz traditionell ab mit Musiker(n), Redner, Schnittchen und Rotwein. Bei manchen Arten von Kunst sind die „einführenden Worte“ durchaus verzichtbar, doch für mich war es eine kleine Einnahmequelle.

Dann also Anfang 2006 der Schnitt, der keinen äußeren Anlass hatte. Aber viele innere. Die Hoffnungen, dass in Chemnitz doch noch „der Knoten platzen“ könnte, waren gestorben. Der Stadt fehlt es an Flair, was zum großen Teil mit der sehr schwachen kulturellen Szene unterhalb der Ebene der kommunalen Einrichtungen zu tun hat. Und wenn sich dann mal zarte Versuche regten, daran was zu ändern, wurde schnell der Deckel drüber gestülpt. Das Experimentelle Karree fand zwar schon nach unserem Wegzug statt, zeigt aber, dass sich seitdem nicht viel geändert hat. Seit reichlich zwar Jahren war ich nicht mehr da, kriege aber durch diverse Facebook-Kontakte einiges mit. Und immer wieder wird darüber geredet, dass doch nun endlich der Brühl belebt werden müsse. Das spricht für sich.

Warum aber Leipzig? Wegen der Arbeit, die ich bis Ende 2010 noch in Chemnitz gemacht habe, kamen weiter entfernte Städte nicht in Frage. Also stand die Entscheidung Dresden oder Leipzig. In Dresden wohnte zu der Zeit noch mein Bruder samt Familie. Zu den Eltern in der Oberlausitz wäre es näher gewesen. Doch nach längerem Abwägen kam die Entscheidung für Leipzig.

Jetzt, ein Jahrzehnt danach, sieht es so aus, dass wir alles richtig gemacht haben. Von Pegida war damals noch nichts zu spüren, wohl aber von der Dresdener Mentalität musealer Behäbigkeit. Residenzstädtler, die in Selbstzufriedenheit schwimmen.

In den ersten Jahren in Leipzig war ich häufig mal bei Poetry Slams, damals noch in Ilses Erika, lernte dabei André Herrmann kennen, der als frischer Student der Politikwissenschaft erstmals an einem Slam teilnahm und gleich gewann. Er hat auf dem Gebiet dank Talent und harter Arbeit Karriere gemacht, später den Begriff Hypezig erfunden und noch etwas später Leipzig eben wegen des Hypes in überregionalen Medien Richtung Brüssel verlassen. Das ist seine Entscheidung. Ob nun Brüssel so viel bodenständiger ist, weiß ich nicht, habe es noch nicht bis dahin geschafft.

Ja, die Einwohnerzahl Leipzigs steigt in beachtlichen Dimensionen, die Mieten steigen mit. Dennoch ist Leipzig im Vergleich mit wirklichen Metropolen immer noch etwas dörflich. Das merken wir sogar im angeblich ach so gentrifizierten Gebiet um die Karl-Heine-Straße, wo wir im August einen Laden eröffnet haben. Wo an langen Sommerabenden etliche Gruppen von Leuten rumsitzen, geht es jetzt sehr beschaulich zu. In Sachen Hype ist da noch ziemlich viel Luft nach oben.

Gerade das macht Leipzig für uns aber immer noch zum zunächst idealen Ort zum Leben. Das Angebot an Kultur ist so dicht, dass man genau selektieren muss. Trotzdem ist die Stadt überschaubar und in fast allen Zipfeln bis zum Cospudener See leicht erfahrbar. Wir sind nun nicht nur ein Jahrzehnt hier, sondern haben auch fast genau so lange kein eigenes Auto mehr.

Wir sind angekommen. Was nicht für die Ewigkeit sein muss. Wir sind ja noch jung.

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