Am Sterbebett

Eigentlich betrachte ich diese Seite eher als einen Leipzig-Blog. Doch immer wieder muss ich mich an Chemnitz reiben. Der gestrige Abend, als ich dort die Oberbürgermeisterin traf, ist wieder so ein Anlass.Überraschend viele Leute strömten ins delicate, um darüber zu diskutieren, ob es noch Chancen gibt, die „toten Augen“ des Brühl-Viertels zu beleben, am besten mit einem Szeneviertel. Neben OB Barbara Ludwig war die zweite Reihe der GGG-Führung, also des kommunalen Immobilienkonzerns, anwesend. Die Mehrheit der etwa 50 Anwesenden meinte: Yes we can! und äußerte das Interesse, genau hier Wohnungen oder Gewerbeflächen zu mieten und sich gegenseitig bei der kostengünstigen Instandsetzung zu unterstützen. Für die GGG ist das allerdings kein Grund, vor Freude in die Hände zu klatschen. Im Gegenteil. Es wird alles getan, genau diese Entwicklung zu unterbinden. Da müssen dann sogar nachweisbare Lügen als Argumente herhalten. Und die Stadtchefin schwärmt zwar von der Dresdner Neustadt und wünscht sich so etwas für Chemnitz, hat aber nicht Mut und Energie, ernsthaft dafür zu streiten.

Das gleiche Spiel läuft parallel im Reitbahnviertel ab, wo es das Projekt Experimentelles Karree gibt. Auch da finden sich immer mehr Enthusiasten, die etwas unternehmen wollen. Und die GGG gibt sich jede Mühe, das zu sabotieren.

Für mich, der die Entwicklungschancen von Chemnitz sowieso ziemlich düster sieht, ist es eine positive Überraschung, wie viele zumeist junge Einwohner doch noch nicht in Agonie verfallen sind und etwas anpacken möchten. Diese gar nicht so kleine Minderheit nimmt gerade Anlauf, um noch mal durchzustarten. Wenn sie jetzt voll gegen die Wand läuft, war es das für lange Zeit. Dann kann der Werbeslogan der Stadt von Stadt der Moderne in Stadt des betreuten Wohnens abgeändert werden. Es ist ein Trauerspiel.

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8 Antworten auf Am Sterbebett

  1. udo-neiße sagt:

    was sind die nachweisbaren lügen der ggg? und aus welcher interessenlage verwendet?

  2. admin sagt:

    So wird behauptet, der erste großangelegte Belebungsversuch 2006 sei mangels Nachfrage gescheitert. Dabei gab es mindestens 70 Interessenten, etliche davon kenne ich selbst und manche waren auch am Montag anwesend und protestierten entsprechend gegen diese Aussage.
    Die Frage der Interessenlage ist interessant. Vermutlich ist es zunächst ein auf sehr kurzfristige Verwertungsinteressen gerichtetes Denken. Zum anderen ist die Aussage überliefert: „Wir wollen hier kein Connewitz.“

  3. admin sagt:

    Nachtrag 19. März:
    So wie das Wetter plötzlich ins Unterkühlte gedreht ist, so plötzlich scheint ein laues Lüftchen die Chefetage der GGG durchweht zu haben. Heute hatten nämlich die Aktivisten des Experimentellen Karrees ebenda ein weiteres Gespräch. Und plötzlich zeigt sich das Unternehmen durchaus entgegenkommend und kompromissbereit. Zwar wird das ExKa in der angedachten Form nicht zu retten sein, doch die GGG bemüht sich tatsächlich um Alternativorschläge! Sollte man da etwa am Montag die zunehmend gereizte Stimmung erkannt haben? Oder hat vielleicht Frau Ludwig am nächsten Tag zum roten Telefon gegriffen? Mysterien des Alltags.

  4. Stefan Reisz sagt:

    Hallo Jens Kassner!

    Sehr interessant und richtig gemerkt. Rückblickend auf 2006 – „keine Connewitzer Verhältnisse“ ist als Zitat mir zuzuschreiben…
    Richtig ist auch die Erinnerung, dass es damals reichlich Interessenten gab, jedoch die Kosten, die die Sanierung der Häuser mit sich gebracht hätten, weder von der GGG noch von den Bewerbern zu stemmen gewesen sind. Daran dürfte sich, mit Blick auf die wirtschaftliche Lage der Chemnitzer Wohnungswirtschaft, die Sie ja aus unserem gemeinsamen GGG-Buch kennen, auch im April 2009 nicht viel geändert haben. Natürlich war das Unternehmen 2006 mit neuer Geschäftsführung ernsthaft bemüht, den Brühl zu beleben – und darüber hinaus zunächst politischen mit Frau Ludwig überein zu kommen. Das damalige Konzept, für das ich in der Erstellung und in der ersten Umsetzung verantwortlich gewesen bin, war eigentlich so gedacht, bezahlbaren Wohn- und Gewerberaum mit Hilfe von Eigenleistungen der Nutzer zu realisieren. Gemeinsam mit Herrn Brüsch sowie der verantwortlichen GGG-Geschäftsstelle und dem GGG-Gewerbemanagement wurde sehr viel Zeit in die Umsetzung investiert und auch gegen mancherlei unternehmensinterne Widerstände angekämpft. Das hat anteilig funktioniert, endete aber dort, wo der Bauzustand sehr marode wurde bzw. die finanziell zugesagten Eigenleistungen der GGG, 3 Jahre hintereinander je 100.000 Euro zu investieren, hinten und vorn nicht gereicht hätten. Letztlich wurde das Projekt tatsächlich deshalb auf Geschäftsführerbeschluss beendet. Trotz der Interessenten. Ob der sich damals verändernde politische Fokus der OB „weg vom Brühl“ hier noch eine Rolle gespielt hat, kann ich nicht sagen, ich glaube es aber nicht.

    An dieser Stelle kann man sicherlich den Ball aufgreifen und diskutieren, ob sich ein kommunales Wohnungsunternehmen ausschließlich dem Renditegedanken unterordnen soll oder ob es auch soziale, gesellschaftspolitische und stadtplanerische Verantwortung über diesen Aspekt hinaus berücksichtigen muss. Das würde den Verantwortlichen natürlich ein hohes Maß an komplexen Kompetenzen abfordern – und eine gefestigte Persönlichkeit mit politischem Hinterland.
    Fest steht jedoch, dass die Summe der leer stehenden Wohnungen auf dem Brühl nicht aus dem Topf der Interessenten zu deckeln gewesen wäre. Und fest steht ebenfalls, dass modern sanierter Altbau auf dem Brühl in der Erstellung von der GGG nicht finanzierbar gewesen war – und zu den wirtschaftlichen Zielmieten auch kaum zu vermarkten gewesen wäre. Das sind dann auch Gründe, die Investoren nachhaltig vom Kauf solcher Standorte in Chemnitz abschrecken. Schließlich sollen am Ende ja auch Menschen in den Häusern wohnen. Schade, denn der Brühl wäre langfristig im städtischen Konzentrationsprozess eine sehr interessante Wohnlage. Aber ob das die Häuser dort erleben? Aus unternehmerischer Sicht sind der GGG aber für solche „Abenteuer“ weitgehend die Hände gebunden. Schon mit dem Blick auf die Demographie. Leider.

    Viele Grüße aus Jena!

    Stefan Reisz

  5. admin sagt:

    Zweifellos kann ein städtisches Wohnungsunternehmen nicht allein die Stadtentwicklung bestimmen. Dafür sind das Zusammenwirken vieler Akteure und eben auch der Wille der Politik nötig. Da ich aber seit drei Jahren in Leipzig wohne und die Entwicklungen hier verfolge, wundere ich mich immer wieder, warum in Chemnitz einfach nichts vorangehen soll. Auch in Leipzig wird die ganze subkulturelle Szene nicht gerade von der Stadt verwöhnt. Trotzdem ist sie sehr lebendig, bunt und breit gestreut. Was gegen „Connewitzer Verhältnisse“ spricht, kann ich nicht nachvollziehen. Ich bin gern in Ilses Erika, im Werk II oder im Conne Island. Weil es aber entlang der Karl-Liebknecht-Straße kaum noch Leerstand gibt und die Mieten hier im Zuge der Gentrification über dem Stadtdurchschnitt liegen, entwickelt sich langsam die Karl-Heine-Straße, also ausgerechnet die Nahtstelle zwischen Plagwitz und Lindenau, zur „West-Karli“. Und an derem fernen Ende liegt die Baumwollspnnerei, wo vor fünf Jahren in einer Quasiruine von gigantischen Ausmaßen mutige Leute ein neues Kunstzentrum gründeten. Weltkunst in unsanierten, heruntergekommenen Fabrikhallen – unvorstellbar in Chemnitz. Als dort vor zwei Jahren die vage Idee aufkam, in der Aktienspinnerei ein Jugendzentrum einzurichten, kam sofort das Totschlagargument, es würde etwa 12 Millionen kosten, um da nur die nötigsten Sicherungsarbeiten durchzuführen. Das war´s dann wieder einmal. Und gerade wird der Versuch des „Experimentellen Karrees“ zum Scheitern gebracht, obwohl die Argumente fadenscheinig sind. Nichts geht in Chemnitz. Nur die Leute. Die Stadt verliert weiterhin bis zu 3000 Einwohner pro Jahr, Leipzig und Dresden gewinnen 5000 im gleichen Zeitraum, obwohl gerade in Leipzig die Arbeitslosenrate um zwei Prozent über der von Chemnitz liegt. Das Argument der schrumpfenden Stadt wird dann für weitere Abrisse genutzt. Dadurch wird die Stadt keinesfalls attraktiver, jedenfalls nicht für Jugendliche. Die Abwärtsspirale scheint nicht aufhaltbar.
    Für ein großes Wohnungsunternehmen, noch dazu ein kommunales, muss es eigentlich ein Hauptziel sein, Leute in der Stadt zu halten oder sie sogar anzulocken. Außerdem ist die Herausbildung eines bunten Szenelebens die beste Gewinnsteigerungsgarantie eben wegen jener Gentrification. Man muss nur in größeren Zeiträumen rechnen. Und nicht unbedingt alles selbst machen wollen, sondern Eigeninitiative einfach nur zulassen und nicht blockieren.
    Ich habe keine Ahnung von BWL, aber die anschaulichen Beispiele anderer Städte beweisen ja, dass so etwas möglich ist. Wenn man will.

  6. black pirat sagt:

    WARUM IST IN CCHEMNITZ IMMER ALLES UNVORSTELLBAR?
    WARUM FINDEN SICH IN CHEMNITZ IMMERWIEDER LEUTE,DIE SICH AN DIE SPITZE VON BASISAKTIVITÄTEN
    SELBSTVERORTEN, UM AM ENDE IHRER (ZWANGSLÄUFIG)ERFOLGLOSEN KOMPROMIßSTRATEGIE DANN DOCH AUSZUWANDERN??!!
    CHEMNITZ IST DIE STADT IN DER MENSCH SOBALD ER ERFOLGREICH SEINE KNOCHEN AUS DEM DRECK BEWEGEN KONNTE VON DEN „OBEREN“ UND DEREN ANBIEDERERN
    „FREUNDSCHAFTLICH“ UMARMT WIRD UM DANN SANFT WIE EIN BABY IN DEN SCHLAMM DER KONSUMKULTUR GEBETTET ZU WERDEN AUF DAS ER SICH UM GOTTES WILLEN MIT „TAFEL“-RESTEN BESCHEIDE.
    HIER WERDEN KOSTANT KOMMUNALPOLITISCHE EINFLUSSMÖGLICHKEITEN DURCH (QUASI-)STADTANGESTELLTE (DIEGGG IST EIN 100%iges TOCHTERUNTERNEHMEN DER STADT)FÜR PARTEIINTERESSEN MISSBRAUCHT.

  7. admin sagt:

    Nachtrag 29. April:
    Es schält sich immer mehr heraus, dass die formell freundliche Haltung der GGG in den letzten Wochen das Hauptziel hatte, das Experimentelle Karree auf mehrere Standorte zu zerstreuen. Dann verliert es seine „Gefährlichkeit“.

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