Dieser 24. Februar

Dieser 24. Februar begann dramatisch. Ich war in Berlin, um meine Enkelin zu betreuen. Es war ein Donnerstag. Buchtag in der Kita. Am Abend hatten wir schon das Buch ausgesucht, das sie beim morgendlichen Gesprächskreis vorstellen möchte, und im Korridor bereit gelegt. Dort lag es auch noch, als wir uns der Kita näherten und ich die Fehlstelle bemerkte. Mea culpa. Als ich es Nala gestand, war sie verzweifelt. „Kein Buch! Nein, ich gehe nicht in die Kita!“ Musste sie aber, meine Rückfahrt nach Leipzig ließ sich nicht verschieben.

Auf der Fahrt zum Hauptbahnhof hatte ich endlich Zeit, in die Nachrichten zu schauen. Russland hat die Ukraine überfallen, ist von drei Seiten einmarschiert. Horror.

Die Solidarität schien damals, vor genau einem halben Jahr, überwältigend. Sieht man von ein paar rechtsradikalen Hanseln wie Martin Kohlmann ab. Dass sie mit der Zeit bröckelt, war vorhersehbar. Ständig zu helfen, ist anstrengend. Konflikte mit aufgenommenen Flüchtlingen lassen sich kaum vermeiden. Was mich aber entsetzt, ist der Gesinnungswandel bei Leuten, von denen ich es nicht gedacht hätte. Das betrifft sowohl die zynischen intellektuellen Briefe(unter)schreiber, als auch Personen aus meinem persönlichen Umfeld.

Vor einem Monat bin ich bei einer Party in der tiefsten sächsischen Provinz mit einem Freund zusammengerasselt. Es ist mein dienstältester Freund, wie kennen uns seit Mitte der 1980er Jahre. Dass er Wagenknecht-Fan ist, hatte ich nicht vermutet. Doch er gibt 1 zu 1 den Dreck der Putin-Propaganda von der faschistischen Regierung in Kiew etc. weiter. Und sowieso steuert und finanziert die USA alle Umstürze in der Welt. Manche Argumente fallen einem leider viel zu spät ein. Ich bin erst mal tanzen gegangen, als die Garagenband losschrammelte. Ich hätte ihn fragen müssen, warum er sich 1989 nicht gegen den amerikanischen Umsturz in der DDR gewehrt hat. Ich selbst habe ja mitdemonstriert. Von den zugesteckten Dollar konnte ich viele Jahre fett leben. Er aber wurde zum Langzeitarbeitslosen. Warum hat er den US-Putsch gegen Honnecker nicht verhindert?

Meine Frau bekommt eine Rundmail einer Gruppe von Frauen, mit denen sie sich ab und zu trifft. Und ist wütend. Die gleiche Propaganda. Wie kommt es, dass jetzt so viele eigentlich vernunftbegabte Menschen durchdrehen? Die Angst vor einem Atomkrieg? Oder nur die Angst, im Winter nicht warm duschen zu können? German Angst auf annähernd gleichem Level.

Vor zwei Wochen musste ich dienstlich zu einer Demonstration von Altstalinisten in Chemnitz. Bei Zombiefilmen im TV kann hier nur lachen. Dort aber kam mir das Gruseln. Auf einem ausliegenden Flyer der DKP stand allen Ernstes, dass Russland keinen Krieg führt, sich nur verteidigt. Die Reden waren nicht ganz so obszön, gingen aber in die gleiche Richtung der Täter-Opfer-Umkehr.

Ich habe das Gefühl, dass mein nicht all zu üppiger Freundeskreis gerade schrumpft. Ich will mit Lakaien eines Kriegsverbrechers und Despoten nichts zu tun haben. Putin zerstört nicht nur die Ukraine, auch Russland. Es wird kalt um mich, aber nicht wegen der Energiepreise. Leuten, die ich für vernünfig gehalten habe, ist ihre Bequemlichkeit wichtiger als die Solidarität mit den Opfern einer Aggression.

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