Eine Statistik

Zum ersten Mal habe ich eine Ausgabe der ZEIT komplett durchgelesen, mit Ausnahme der Stellenanzeigen und des Veranstaltungskalenders. Dass es sich um die Nummer 27/2013 vom 27. Juni des Jahres handelt, hat keine Bedeutung. Schon seit langem hatte ich mir vorgenommen, mal eine große Zeitschrift auf alle Vorkommen des Begriffs Moderne samt seiner Ableitungen zu durchforsten.

Die Fakten: Genau 14 mal kommt das Wort „modern“ vor, einmal davon in der Steigerungsform „hochmodern“. Vier mal ist von „Modernisierung“ die Rede, einmal von „Modernität“ in der Zusammensetzung „Modernitätstest“. Und einmal taucht „postmodern“ auf. Ob ich das ebenfalls einmalig verwendete Attribut „almodisch“ hinzuzählen soll, ist fragwürdig. Das beiligende ZEITMAGAZIN war übrigens eine Nullnummer, kein einziger Treffer.

Ich bin enttäuscht. Meinem Gefühl nach kamen die Suchbegriffe in früheren Ausgaben deutlich häufiger vor und auch in einer breiteren Streuung der jeweiligen Bedeutungen.Ist das eine Illusion? Ich werde den Versuch mit etwas zeitlichem Abstand wiederholen.

Worauf beziehen sich nun die immerhin rund 20 Fundstellen? Das erste Vorkommen auf Seite 4 ist ganz nach meinem Geschmack: „Der moderne Rechtsstaat fußt auf dieser Idee.“ Gemeint ist ein „System von checks and balances“ unter Berufung auf John Locke.

Auf Seite 10 beginnt ein Artikel über Abgeordnete, die aus dem Bundestag ausscheiden. Und ausgerechnet in Bezug auf CDU und FDP kommt da modern und zweifach Modernisierung vor. Bei der CDU-Frau Rita Pawelski heißt es, die Modernisierung der Familienpolitik sei ihr eine Lebensaufgabe geworden. Es geht also um das, was anderenorts als Linksruck bezeichnet wird, eine wachsende Nähe der Politik dieser traditionell als konservativ angesehenen Partei zu veränderten gesellschaftlichen Realitäten und Haltungen. Der Freiheitliche Ernst Burgbacher hingegen wird mit den Worten zitiert: „Es war das größte Modernisierungsprogramm, das der Tourismus je gesehen hat.“ Was meint er wohl? Genau: Die auch als Mövenpick-Bonus bekannte Absenkung der Umsatzsteuer für Hotels. Modernisierungsprogramm. Das muss ich erst einmal verdauen. Aber irgendwie hat er damit mehr recht aus Frau Pawelski. Die Maßnahme zielte auf Wirtschaftswachstum, also eine Kernaufgabe der Moderne.

„Ein moderner Mensch.“ Auf wen könnte sich diese Kennzeichnung wohl beziehen? Kaum jemand würde bei dieser Quizfrage wohl Walter Ulbricht einfallen. Egon Krenz, sein Nachnachfolger, behauptet dies aber und ergänzt: „ein sozialistischer Unternehmer“. Na ja, auch hier zieht das Wachstumsargument. Tatsächlich strebte Ulbricht ja eine Effizienzsteigerung der DDR-Wirtschaft an und rief dafür in den Sechzigern ein Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung mit begrenztem Konkurrenzkampf ins Leben. Die Anklänge an Lenins NÖP waren Absicht, letztlich erwies sich die Kampagne aber als gleichermaßen kurzatmig und inkonsequent.

In den nachfolgenden Rubriken Dossier, Geschichte, Fußball (gibt es tatsächlich in der ZEIT!) und Wissen ist gar nichts modern. Schade eigentlich. Und im Wirtschaftsteil? Erst auf der letzten von zehn Seiten ein Treffer. „Moderne Aufgabenverteilung im Unternehmen“ steht da. Das Unternehmen ist Continental, einer der ganz großen Zulieferer der Automobilbranche. Der Artikel ist aber in anderer Hinsicht interessant. „Schneller wachsen als der Markt“, sagt der Vorstandsvorsitzende Elmar Degenhart. Und bezüglich eines von Degenharts Vorbildern, dem amerikanischen Autor Peter F. Drucker, liest man: „Einer ganzen Managergeneration hatte der beigebracht, dass ein Unternehmen nur überleben könne, wenn es gelingt, permanent innovativ zu sein.“ Moderne in Reinkultur, ohne dass der Begriff erwähnt wird.

Nun wird es richtig spannend. Die einzige Erwähnung von „postmodern“ steht an. Im Feuilleton. Das ist nicht so überraschend, eher das konkrete Thema: der deutsche Schlager! Zunächst: „Der Schlager ist das Stehaufmännchen der deutschen Pop-Kultur, er geht aus jeder Modernisierungskrise gestärkt hervor.“ Später fällt das Reizwort: Guildo Horn machte den Schlagert „endgültig zur postmodernen Veranstaltung“. Zwischen beiden Bemerkungen besteht kein Widerspruch. Modernisierung (hier wohl als Rock, Pop, Techno gemeint) ist Krise, postmoderne Mehrfachkodierung die Rettung.

Im benachbarten Beitrag geht es um die jüngsten Protestbewegungen in der Türkei und in Brasilien und deren globale Einordnung, verfasst von Slavoj Žižek. In einer rückblickenden Passage heißt es, dass sich Iran in den Siebzigern, vor der Islamischen Revolution „auf der westlich-modernen“ Überholspur befand. Das passt. Allerdings bleibt die Frage offen, ob die nachfolgende Entwicklung im Land eher postmodern oder antimodern oder noch anders genannt werden sollte.

In einem der nächsten Artikel unter der Überschrift „Wir Selbstoptimierer“ kommt keines meiner Suchworte vor. Trotzdem möchte ich zitieren: „Den Menschen optimieren, indem man Organisches durch Technisches ersetzt und Hybride erschafft, heißt unser Leben den Moden und der geplanten Obsoleszenz unterwerfen, also dem gewollten Produktverfall, so wie wir ihn von unseren technischen Erzeugnissen kennen. Der Kapitalismus floriert von jeher durch die Eroberung neuer >Grenzen<, das heißt durch die Aneignung neuer Ressourcen: Der menschliche Organismus stellt hier einen immensen Vorrat an >Wildnis< dar, der sich aneignen lässt.“ Selbst wenn man Kapitalismus nicht als eine Erfindung des späten 18. Jahrhunderts ansieht, ist das eine treffende Charakterisierung eines Prozesses, den man beim Nachnamen Moderne rufen darf.

Nicht ganz abwegig ist dann auch, dass Christian Schmidt, stellvertretender Parteivorsitzender der CSU, in seinem Aufsatz über Drohnen („Nicht die Drohnen sind das Problem“) gleich drei Mal schreibt: „die modernen Hilfsmittel des Krieges“, „Kraft der modernen kriegerischen Mittel“ und „Besonderheit moderner Kriegstechnologie“. Passt schon.

Etwa irritierend ist dann letztlich, dass auch in einem Artikel zur Jugendherberge Nürnberg („Jugendherberge 2.0“) ebenfalls dreifach „modern“ vorkommt, darunter mit dem Superlativ „hoch-“. Geschenkt.

Interessanter ist dann schon, dass in einer Sammlung von Statements, die Dozenten und Professoren zur Frage, was sie von Studenten gelernt haben, ein Romanist sagt: „Der Kanon dessen, was ich in meinen Lehrveranstaltungen vermittele, ändert sich immer auch durch die Rückmeldungen der Studierenden. Sie sind für mich gewissermaßen der Modernitätstest für ältere Literatur.“ Ganz klar: „modern“ ist hier im Sinne von gültig und gegenwärtig zu verstehen.

Das war´s. Keine fette Beute, trotzdem aufschlussreich.

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5 Antworten auf Eine Statistik

  1. rohl sagt:

    Wollten Sie nicht Sonnenuntergänge posten?

    Ich komme auf 33 Treffer, die „modern“ enthalten. Dafür musste ich nicht die ganze Zeit lesen, sondern habe es per Suchanfrage in Sekunden erledigt.

    Nachsitzen bitte!

    Der erste Treffer befindet sich nicht auf Seite 4, sondern auf Seite 1 im Artikel „Von wegen Kinder“.

    Die Zeit ist keine „Zeitschrift“, sondern eine Zeitung. Aber in einem B(ilder)log spielen solche Details eine untergeordnete Rolle 😉

  2. admin sagt:

    Über eine digitale Ausgabe, mit der ich mir so bequem machen kann, verfüge ich leider nicht. Das Durchlesen hatte allerdings den Nebeneffekt, dass ich interessante Artikel zur Kenntnis genommen habe, die ich sonst wohl überblättert hätte.
    Dass ich Nennungen der Suchwörter übersehen habe, so auf Seite 1, ist wahrscheinlich. Dass ich aber mehr als zehn Vorkommen übersehen haben soll, kann ich mir eigntlich nur mit den von mir ignorierten Annoncen und Kalendarien erklären.
    Zum Unterschied Zeitung vs. Zeitschrift habe ich keine Definitionen nachgesehen, auch jetzt nicht. Ein wöchentlich erscheinendes Blatt ist für mich eher eine Zeitschrift. Sollten Format und (Nicht-)Bindung die Kriterien sein, müsste ich ja auch manche viertel- oder halbjährlich erscheinende Periodika so bezeichnen. Das fällt mir schwer. Und bei E-Papers fällt der Unterschied dann sowieso weg.

  3. Und ich habe in der Fachzeitschrift für „Frettchen-Pediküre“ nach der Wortgruppe „Violette Luftmatratze“ gefahndet.
    Ohne positives Ergebnis, das finde ich feige.

    JH

  4. leipziger sagt:

    Werter Herr Henne,

    lesen Sie zur Entspannung den Max-Goldt-Text aus diesem Büchlein, das beruhigt:

    http://www.buechertreff.de/romane-erzaehlungen/48808-blaurote-luftmatratze-15-schriftsteller/

    GvH

  5. Kerstin G. sagt:

    @ leipziger:
    Netter Versuch, aber vermutlich wirkungslos. Habe schon vor paar Monaten die Kommentare Jürgen Hennes in diesem Blog bzw. seine Veröffentlichung eigentlich internen Mailwechsels (sehr fragwürdig) bei ihm selbst dann verfolgt. Und da finde ich : „Ohne fachwissenschaftliche Kriterien für eine angemessene Ausstellungs – bzw. Kunstkritik zu zelebrieren, denke ich, dass dieses Format dem Informationsbedürfnis im Kleingartenverein “Steifes Frettchen” über den Säuerungsstand der Gülle entsprechen würde.“ Das scheint sein gewöhnlicher Sprachschatz zu sein. Das ist wohl seine Art von Humor. Und dann schreibt er auch noch: „Leider entwickelt sich dieser Sound zu ihrem hauseigenen Stil.
    Oberflächlichkeit, Textverdrehungen und keinerlei Kritik-Akzeptanz. Und scheinbar auch eine gnadenlose Humoraskese. Wissen Sie, was Frauen an Männern besonders schätzen? Keineswegs Länge und Umfang des Phallus. Nein, der Humor ist es. Mir sind beide Kennzeichen eigen.“
    Ich befürchte, dass er mit seinen immer gleichen Altherrenwitzen den Humor von Max Goldt überhaupt nicht kapiert. Vielleicht auch nicht den von Jens Kassner, dessen Kolumnen im Stadtstreicher Chemnitz ich immer gern gelesen habe, auch wenn sie natürlich nicht an Max Goldt heranreichen.

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