Panisch angehauchtes Zwischenfazit

Angenommen, mich rammt morgen eine tieffliegende Cessna, oder erstmals überspringt ein Computervirus die Artenbarriere und befällt mich. Dann wäre es eigentlich schade, wenn von meinem seit drei Jahren verfolgten Projekt nicht mehr als eine Sammlung von Exzerpten und Notizen bleibt. Nach verschiedenen anderen Arbeitstiteln lautet die Überschrift unterdessen: „Auf der Suche nach dem Begriff der Moderne. Ein Bildungsroman.“ Angesichts erwähnter Risiken sollte ich mal ein knappes Fazit ziehen.

Ausgangspunkt war die Erkenntnis, dass bei allem Wirrwarr um den Moderne-Begriff sich doch zumindest bezüglich der zeitlichen Dimension drei große Kreise ziehen lassen: 1. die sogenannte Klassische Moderne, vorwiegend ästhetisch bestimmt, beginnend im frühen 20. Jahrhundert oder je nach Lesart auch etwas früher oder später. 2. der verbreitete Modernebegriff, der mit dem annähernden zeitlichen Zusammenfall von Aufklärung und Industrieller Revolution oder auch nur einem von beiden arbeitet. 3. die mit dem Begriff der Neuzeit fast deckungsgleiche Auffassung, die Moderne beginne mit der Renaissance und den großen geografischen Entdeckungen.

Und? Nach vielen Tausend Seiten Lektüre in gedruckter und digitaler Form und ergänzender eigenständiger Denktätigkeit reichen mir diese drei Kreise nicht. Ich bin zum vorläufigen Schluss gekommen, dass der Umbruch im hohen Mittelalter, ungefähr im 13. Jahrhundert passiert sein muss. Es mag albern erscheinen, noch weiter zurück zu greifen, doch dafür gibt es Gründe.

Ein Auslöser für diese Einsicht kam durch ein dünnes Büchlein, das sich schlicht „Industrialisierung“ nennt und vom österreichischen Wirtschaftshistoriker Felix Butschek geschrieben wurde. Tiefgründig ist diese Einführung wirklich nicht, hat mich aber durch zwei Anregungen beeindruckt. Das eine ist der Verweis auf die Neue Institutionenökonomik, der Butschek anhängt und mit der ich mich noch befassen will. Vor allem aber fragt der Autor: „Warum begann die Moderne an diesem Ort und zu dieser Zeit?“ Die Frage nach dem Warum ist der große Unterschied zu den Schriften vieler berühmter Denker, die das Einsetzen der Moderne – wann auch immer terminiert – als gegeben hinnehmen und die Ursachenforschung vernachlässigen. Meist bleibt es bei einer Beschreibung der Symptome und daraus folgender Entwicklungen. Oder es wird auf Geistesblitze verwiesen, die eben passierten. Solche Begründungen finden sich sogar bei Leuten, die sich als (Neo-)Marxisten verstehen wie Negri und Hardt, die in „Empire“ die „Entdeckung“ der Immanzenz als den großen Durchbruch feiern. Bei anderen Autoren ist es die Wiederentdeckung von Aristoteles durch arabische Vermittlung.

Doch genau dann und sowieso steht die Frage: Wieso begann im westlichen Europa im späten (europäischen) Mittelalter ein Vorgang, der heute die ganze Welt beherrscht und noch lange nicht beendet ist? Warum nicht im arabischen Kalifat, wo ja nicht nur Aristoteles bewahrt wurde, sondern auch bemerkenswerte technische Neuerungen stattfanden? Warum nicht im reichen Byzanz, wo das Erbe der Antike viel unmittelbarer fortlebte? Warum nicht sowie schon in der Antike? Warum nicht im China unter Kaiser Zheng He, der eine gigantische Überseeflotte bauen ließ? Stattdessen im vergleichsweise unterentwickelten, zerrissenen, chaotischen Westeuropa.

Das ganz Besondere und weltgeschichtlich Einmalige war offensichtlich, dass das schon immer vorhandene Streben nach vermehrtem Reichtum zum ersten Mal nicht (allein) durch Expansion, sondern vor allem durch Intensivierung versucht wurde zu befriedigen, verbunden mit dem, was man später als Erweiterte Reproduktion bezeichnete. Also: den erwirtschafteten Gewinn nicht komplett verprassen, sondern von vornherein einen bestimmten Teil für weitere Investitionen einplanen, um noch mehr Gewinn zu erzielen. Das gab es nie zuvor und nicht zeitgleich in anderen Weltgegenden. Darin scheint der Schlüssel für den bis heute anhaltenden Wachstumsfetisch zu liegen, auf den sich so ziemlich alle Merkmale der Moderne, die in den diversen Definitionen benannt werden, zurückführen lassen. Das gilt sogar für die künstlerische Moderne.

Diese letztliche Begründung der Moderne im Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsweise hat zur Folge, dass moralische Kategorien nicht greifen. Da gibt es kein Gut und Böse. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Prinzip, dass nicht mit Appellen und Verordnungen gestoppt werden kann. Darum sind auch heutige Aufrufe zur Mäßigung völlig hilflos. Sofern Menschen durch Entschleunigung, Slow food, Konsumverzicht und so weiter für sich persönlich mehr Lebensqualität gewinnen, ist das in Ordnung. Problematisch wird es, wenn daraus Konzepte zur Rettung der Welt abgeleitet werden, ohne an die Ursachen gehen zu wollen.

Natürlich waren die zaghaften Anfänge dieses Prinzips im hohen Mittelalter noch nicht unumkehrbar. Schon die Ende des 13. Jahrhunderts einsetzende und mehr als ein Jahrhundert anhaltende Krise zeigt das. Ebenso die Zeit von Gegenreformation und Dreißigjährigem Krieg. Doch die Keime waren offenbar schon so stark, um diese Herausforderungen zu überstehen. Dass dann die Industrielle Revolution in England und die Aufklärung in Frankreich, den jungen USA und anderswo zeitlich annähernd zusammenfielen, mag Zufall sein, hat aber die gleichen Wurzeln. Das kann nicht der Beginn der Moderne sein, wie häufig behauptet, es ist nur das Erreichen des point of no return. Von da an gab es keine Umkehr mehr.

Die Frage nach dem Warum steht aber immer noch im Raum. Butschek beantwortet sie nicht, doch das Stellen der Frage ist schon sehr viel wert. Warum sind die Menschen nicht schon früher oder anderswo auf die Idee gekommen, einen Teil des gerade gewonnenen Reichtums bewusst zurückzuhalten, um daraus noch mehr Reichtum wachsen zu lassen?

Es muss ein ganzes Bündel an Faktoren sein, welches damals, im fortgeschrittenen westeuropäischen Mittelalter zusammenstieß, um diesen Prozess einzuleiten. Als große Ironie muss es im Nachhinein erscheinen, dass ausgerechnet die katholische Kirche, die später zu den großen Verlierern der Entwicklung gehörte, entscheidende Anstöße gab. Sie trieb aus eigennützigen Interessen die Säkularisierung voran, sie begründete ein strenges Zeitregime, und sie schuf ein Ethos der Arbeit, das es nie zuvor gab. Andere Faktoren kamen hinzu: Bevölkerungswachstum in Einheit mit einer Produktivitätssteigerung der Landwirtschaft, Aufblühen der Städte, Wiederaufleben der Geldwirtschaft, Brüchigwerden der horizontalen Gesellschaftsschichtung, beginnende Autonomie der Kunst und und und. Viele dieser Prozesse gab es auch schon früher und anderswo. In Bezug auf Erfindungen wie Papier, Schießpulver, Mühlen und anderes war China viel weiter fortgeschritten. Nur im Zusammentreffen mehrerer Entwicklungen kann der Schlüssel für das Einsetzen der Moderne liegen, das Aufkommen des Kapitalprinzips aber ist unter den vielen Faktoren der ausschlaggebende.

Erkennt man dies an, so ist völlig klar, dass die Moderne noch lange nicht zu Ende ist. Vielmehr ist das Wortgeklingel der postmodernen Theoretiker verhallt. Die Moderne wird genau dann zu Ende sein, wenn in den Abendnachrichten verkündet wird, es sei gelungen, das weltweite Wirtschaftswachstum spürbar zu verringern und allgemeiner Jubel bricht aus.

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