Zu unserer Zeit

„Zu unserer Zeit hat´s sowas nicht gegeben!“ Wenn ich als Jugendlicher diesen Satz hörte, war für mich klar, dass ich ihn niemals aussprechen würde. Wenn doch, dann wäre es ein untrügliches Zeichen für Altersdebilität.

Unverzichtbar bei diesem Satz ist das deutlich mitgesprochene Ausrufezeichen. Erst dadurch wird klar, dass man meint: Wirwollensowasauchheutegottverdammichnichthaben!!! Ansonsten wäre es ja nur eine simple Feststellung. Ein oder zwei Generationen zuvor gab es eben noch keine Kassettenrekorder, Raumkapseln, Verhütungspillen, Schwadmäher E 301. Schade eigentlich, aber den technischen Fortschritt in seinem Lauf hielten auch Honecker, Hager und Mittag nicht auf. Es geht aber um das Andersseinwollen, -können, -dürfen der Jugend.

Mein Großvater mütterlicherseits stellte einen typischen Aufsager dieses Satzes dar. Er war ein sehr lieber, intelligenter, lebenslustiger und vielseitig interessierter Mensch, der nach fünf Jahren sowjetischer Kriegsgefangenschaft als überzeugter Kommunist zurückkehrte und zum Direktor einer Möbelfabrik in der Oberlausitz gemacht wurde, obwohl er lieber selbst mit der Hand das Holz bearbeitete. Technologische Neuerungen musste er immer gleich ausprobieren. Als zum 20. Jahrestag der DDR 1969 das Rundstrickgewebe Präsent 20 in kleinen Mengen hergestellt wurde, besorgte er durch seine kollegialen Beziehungen sofort einige Meter für meine Mutter, damit sie als gelernte Schneiderin daraus was Schickes für die ganze Familie nähen konnte. Wurde aber im Radio die Thomas-Natschinski-Combo gespielt oder kam in unserem Einsender-TV ein Film mit Louis de Funes, dann war die Toleranz für Neues am Ende.

Meine Oma väterlicherseits hingegen sagte immer, wenn meine Haare knapp über die Oberkante der Ohren ragten: „Siehst aus wie ein Beatle!“ Als ich Jahre später erfuhr, dass es im kapitalistischen Ausland eine Tanzkapelle gab, die sich so nannte, wunderte ich mich sehr. Wie kann man solch ein Schimpfwort für einen verwahrlosten Menschen zum Namen wählen und trotzdem einigermaßen erfolgreich sein? Jedenfalls spielten sie in der Dorfdisko Schirgiswalde fast jedes Mal einen Schlager dieser Formation.

Trotz der fürsorglichen Erziehung und meinem schüchternen Naturell erwachten spätestens um das 16. Lebensjahr herum rebellische Gefühle. Meine Kumpels waren im Dagegen-Sein zwar viel weiter, aber auch meine Protesthaltung war keine modische Attitüde, sondern Bedürfnis. Während des Studiums kam dann theoretische Unterfütterung hinzu. Zwar wollte ich die DDR nicht abgeschafft wissen, aber stellte sie mir ganz, ganz anders vor. Als ich 1988 das Wort Exmatrikulationsverfahren persönlich kennenlernte, war das nicht wegen Faulheit und auch nicht wegen zu langer Haare. Als Oppostionellen sah ich mich deswegen nicht, doch ein Mindestmaß an Verweigerung gehörte für einen jungen Menschen einfach dazu. Offensichtlich nicht nur im Osten. Berichte über die 68er-Bewegung, die es gut gefiltert tatsächlich auch in der DDR gab, gehörten zu meiner Lieblingslektüre. Im September 1989 trat ich dann zum ersten und bisher einzigen Mal einer politischen Gruppierung bei, der Vereinigten Linken. Als da aber Maoisten und Trotzkisten um die Führungsrolle stritten, war ich schnell wieder weg. Auch die Besetzung der Leipziger Uni Ende 1990 hatte ich mir eigentlich romantischer vorgestellt, ging darum lieber zur Silvesterparty in die Moritzbastei.

Heute kriege ich allerdings häufig die Krise, wenn ich Jugendliche beobachte. Nicht weil sie gegen die Ansichten und Gewohnheiten meiner Generation auf die Barrikaden gehen, sondern weil sie die Welt im Großen und Ganzen ziemlich in Ordnung finden. Nur ihre persönliche Einkommenslage gilt es noch zu optimieren. Solch eine Schlaftabletten-Disziplin wie BWL gehört darum zu den begehrtesten Studienfächern. Von Dieter Bohlen bei einer Castingshow niedergemacht zu werden gilt als Auszeichnung. Besonders Mutige ziehen den USB-Stick aus dem Computer, ohne ihn vorher zu deaktivieren oder werfen Originalverpackungen vor Ablauf der Garantiefrist weg. Als Gipfel der Aufmüpfigkeit gilt es, abend Aronal und morgens Elmex zu nehmen.

Ja gut – Outfit und Körpermanipulation der Kids können manchmal extremistisch erscheinen. Die Avantgarde trägt Piercings sogar schon an inneren Organen. So what? Heute gehört es doch bei Börsenmaklern zum guten Ton, sich Che Guevara auf die Augenlider tätowieren zu lassen.

Dass es nicht nur mein subjektiver Eindruck ist, bestätigt die letzte Shell-Jugendstudie: Nie gab es in den vergangenen hundert Jahren eine Generation, die so wenig opponiert hat. Die gegenwärtigem Jugendlichen sind Meister der Stromlinie. Also, zu unserer Zeit hat´s sowas nicht gegeben!

veröffentlicht in Corax 5/2010

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2 Antworten auf Zu unserer Zeit

  1. G.H. sagt:

    Fällt solches Verhalten unter Massen-Individualismus?

    Wichtiger ist aber eigentlich wie immer die Frage: Cui Bono? (auf deutsch etwa: Was machen eigentlich U2 den ganzen Tag?)

    Wenn eine ganze Generation nur auf persönliche Optimierung hin gedrillt ist, wer reißt sich eigentlich in der Zwischenzeit die – wie auch immer geartete – Gesellschaft unter den Nagel? Und – was macht er dann damit? Ich habe da so gewisse Befürchtungen, daß Deine Beobachtungen kein Zufall sind. Dafür sind die Phänomene zu häufig.

    Abbrobo kein Zufall:
    http://de.wikipedia.org/wiki/Georgia_Guidestones

    GvH

  2. weiterhin sagt:

    Prof. Wippermann von der FU Berlin, letztens für einen Vortrag in Chemnitz, schlug in die selbe Kerbe:
    Früher haben wir noch Politik studiert, um Regierungen zu stürzen. Heute wollen die Absolventen sie beraten. (frei zitiert)

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