Sphären und Schwämme

Immer wieder auf der Suche nach Bestimmungen des Begriffs der Moderne, müsste Peter Sloterdijks neuestes Werk „Zeilen und Tage“ für mich eigentlich sehr ergiebig sein, gehört doch auch für den Großphilosophen Moderne zu den häufig gebrauchten Schlüsselbegriffen. Und so lese ich dann auf einer einzigen Doppelseite zwei ganz unterschiedliche Bedeutungen des Begriffs, ohne dass eine nähere Erklärung nötig wäre:

Niemand scheint sich heute an die Anfänge der Moderne zu erinnern, als die entscheidende Richtung des Fortschritts als Verringerung, Reduktion, Minimierung, Formalisierung bestimmt wurde; es war die große Zeit der logischen Österreicher. Damals ging es um eine reformatio mundi im antihabsburgischen Stil. Auch das Bauhaus von Weimar ging auf solche Ziele zu: Die Welt wird besser, indem wir weniger von allem machen, und das Wenige klar, deutlich und quintessentiell. Kurz darauf kamen die Leute von der Pumpstation an die Macht, die Fortschritt nur als Mehr denken konnten: mehr Lärm, mehr Masse, mehr Hybride. (S. 34f)

Hier geht es also um die sogenannte Klassische Moderne im frühen 20. Jahrhundert (an deren Prinzipien sich laut P.S. kaum jemand erinnert). Wenige Zeilen weiter dann:

Die Moderne sucht – meist unter dem Vorwand des Handelns – nach Verfahren zur Aneignung der existentiellen Passivität. Deswegen kommt der seit dem 14. Jahrhundert florierenden Mystik in den Städten eine so große Bedeutung zu. Mystik hat nichts mit Selbstauslöschung zu tun, wie die Leser von Büchern aus dem Diederichs Verlag glauben. Sie ist die Könnensform des leidenden Lebens, also die Übungsform der Passion. Der mittelalterliche Passionsort war das Kloster – die frühe Neuzeit führt das Leiden in die Werkstätten und an die Arbeitsplätze. Passion und Kompetenz werden eins. Das ist die Religion der Städte, aus der die Reformation hervorging. Simul iustus et peccator, das heißt auch: gleichzeitig Mystiker und Handwerker, zugleich Christenmensch und Unternehmer. Damals wurde auch der moderne Schüler erfunden: das Kind als Mönch mit dem Schulranzen. (S.35)

Da sind wir nun am Übergang Mittelalter zu Neuzeit mit dem gleichen Begriff angekommen. Sloterdijk ist ja stets bemüht, Philosophie und Anthropologie in Einklang zu bringen, den körperlichen Menschen mit dem geistigen. Darf man ihm also eine gewisse Schwammigkeit unterstellen?

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