Aus meinem Tagebuch der Moderne V

Fast schon dachte ich, das vor anderthalb Jahren Gesuchte mit dem Dokupedia-Artikel von Christof Dipper doch noch gefunden zu haben – ein handliche Übersicht über die Deutungsweisen des Begriffs Moderne. Dass Dipper dabei von vornherein wertend vorgeht, ist kein Nachteil. Im Endeffekt, nach etlicher anderer Lektüre, kann ich mich mit seiner Auslegung aber gar nicht anfreunden. Dipper unterscheidet zunächst drei Deutungen von „Moderne“:

1. die Stilrichtung in den Künsten, die radikal mit der Tradition bricht,

2. eine Verbindung von Zeitdiagnose und Weltverhalten, für die der Rationalismus im Mittelpunkt steht,

3. eine zeitgeschichtliche Epoche, die je nach Auslegung um 1500 oder um 1800 beginnt.

Mit der Konzentration auf die erste Version folgt Dipper zwar dem heute verbreiteten Sprachgebrauch (dem er dann teilweise zu widersprechen versucht), kann aber typische Merkmale dessen, was als modern bezeichnet wird, nicht auf die Ursachen zurückführen, beispielsweise der Zwang zur Beschleunigung. Und wenn er dann, mit Bezug auf eine nachholende Moderne im Nachkriegsdeutschland, schreibt: Inzwischen hat sich der Sprachgebrauch synchronisiert, und „postmodern“ bestimmt auch hierzulande Kunst und Zeitgefühl, hat er einfach nur unrecht. Man muss sich nur eine beliebige überregionale Tages- oder Wochenzeitung nehmen und anstreichen, wie häufig das Attribut modern in Bezug auf ganz gegenwärtige Vorgänge oder Zustände benutzt wird. Das ist allgemeiner Usus, während postmodern ein exotisches Dasein in Feuilletons für das auserwählte Fachpublikum fristet.

Interessant sind Dippers folgende Ausführungen, wie „die Moderne“ von Eugen Wolffs Vortrag von 1886 aus nicht nur in den Duden, sondern auch in verschiedene Wissenschaftsdisziplinen Eingang fand. Bei seiner folgenden eigenen Bestimmung des Begriffs versucht Dipper sich ganz dicht an das Aufkommen im Sprachgebrauch zu halten. Das muss zwangsläufig auf das Deutsche zentriert bleiben, da es in anderen Sprachen den Begriff in dieser besonderen Ausformung nicht gibt, wohl aber das (differierende) Verständnis für Modernism etc. Und gerade dieser enge Bezug auf den als Schriftsteller heute zu Recht völlig vergessenen Wolff mit seinem Neologismus macht Dippers Definition so zweifelhaft. Eigentlich dürfte er dann gar nicht von Postmoderne sprechen, denn diese eigentlich Postmodernism benannte Strömung entstand ja in den USA, griff dann auf Frankreich über und wurde im deutschen Raum rezipiert, als sie fast schon vorbei war. Darum ist es wohl zwecklos, „die Moderne“ trotz ihrer besonderen deutschsprachigen Ausformung nicht übersetzen zu wollen.

Moderne fasst Dipper als einen „gerichteten Verlauf der Geschichte“, wodurch Rückschläge nicht möglich sind. Dafür setzt er zwei Basisannahmen voraus: erstens, dass die Gesellschaft durch die Heraufkunft der Moderne einem grundlegenden Wandel ausgesetzt ist, und zweitens, dass sich im Zeitverlauf auch Selbstwahnehmung und -beschreibung der Gesellschaften ändern. Das mag stimmen, warum setzt Dipper dann aber den Beginn der Moderne auf die Zeit um 1880, als der grundlegende gesellschaftliche Wandel schon eine lange Geschichte hinter sich hatte und auch die Veränderung der Selbstwahrnehmung? Die vorhergehende Periode muss er darum als „Sattelzeit“ bezeichnen, die seiner Lesart nach um 1770 einsetzte und die Epoche der Revolution war. Da er damit keinesfalls die Industrielle Revolution meint, sondern vor allem die Deklaration der Menschenrechte, wird sichtbar, dass sich Dippers Modernebegriff ganz im idealistischen Denken bewegt. Für eine Erklärung von Ursachen und Prognosen zum weiteren verlauf ist der Ansatz daher unbrauchbar.

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