Was bitte ist eine stille Mitte?

Es mag nicht allzu viele gründliche Leser des Bidbook II, also der Chemnitzer Bewerbungsschrift für den Kulturhauptstadttitel, geben.

Wer sich doch an die Lektüre des rund 170 Seiten schweren Werkes wagt, dem werden bei verschiedenen Passagen Fragezeichen in den Augen erscheinen. An einer Stelle, auf Seite 11 der deutschen Version, sind sie aber besonders groß: „Die ‚stille Mitte’ nimmt die Radikalisierung der Klassenkameraden ihrer Kinder, ihrer Familien, Nachbarn und Bekannten wahr, ohne bisher selbst Position zu beziehen und fühlt sich verloren und machtlos. Andere Meinungen, selbst wenn wir ihnen nicht zustimmen, gehen jedoch uns alle an, weil sich Frust, Misstrauen und Einsamkeit auf eine Art und Weise zeigen, die den Werten einer demokratischen Gesellschaft entgegenstehen: Abwertung anderer, Hassreden und sogar Gewalt. Auch diese Phänomene sind Teil des heutigen Europas.“

Radikalisierung steht da auf der einen Seite, Schweigen angesichts dieser Radikalisierung auf der anderen Seite. Ein schräges Bild, zumindest deshalb, weil bei dieser Bestimmung die vielen Nicht-Stillen, aber auch Nicht-Radikalen ausgeblendet werden.

Dieses Schweigen gegenüber der Radikalisierung ist da, tatsächlich. Zuweilen nimmt es Dimensionen eines Dröhnens an. Stimmt. Dass alle, die nicht schweigen, radikal sind, ist aber sehr fragwürdig. Das betrifft nicht nur die vielen Akteure, die sich in die Vorbereitung für 2025 mit Ideen, Projekten und Aktionen einbringen. Auch das, was man gemeinhin als Zivilgesellschaft bezeichnet, ist nur zum geringen Teil irgendwie als radikal zu bezeichnen.

Doch auch der Begriff der Mitte ist nicht so einfach zu fassen, wie es zunächst erscheint. Der Leipziger Journalist und Publizist Tobias Prüwer hat im Sommer 2022 ein Buch mit dem Titel „Kritik der Mitte“ veröffentlicht. Darin konstatiert er: „Die Mitte ist magnetisch, wird gebraucht als Versprechen und Idol.“ Dann aber sagt Prüwer: „Es ist ein Kuriosum der Mitte, dass ihre Existenz unproblematisiert vorausgesetzt wird, aber es gerade ihre wesentliche Eigenschaft ist, eine Leerstelle zu sein.“

Das Phänomen der quasi magnetischen Mitte hat der Autor von verschiedensten Seiten her untersucht, mit Ausflügen in Antike und Mittelalter bis hin zu Geografie und Geometrie. Bezüglich der Gesellschaft aber muss er feststellen, dass die Mitte ein (Selbst-)Betrug ist. Das gilt in ökonomischer wie politischer Hinsicht. Die sogenannte Mittelschicht reicht vom Soloselbstständigen, der bei 70 Stunden Wochenarbeitszeit kaum die Miete zahlen kann bis zu Friedrich Merz, der aus dem Cockpit des Privatjets verkündet, zur gehobenen Mittelschicht zu gehören. Und in der Parteienlandschaft gibt es ein auffälliges Gedränge in der Mitte, zu den Rändern möchte kaum jemand gehören.

Der Befund von Tobias Prüwer ist übergreifend, nicht ortsbezogen. Beobachtet man aber die Chemnitzer Montagsdemonstrationen, zuweilen als Spaziergänge bezeichnet, ist zu beobachten, dass sich hinter den Bannern und Fahnen von Freien Sachsen und Identitäter Bewegung Menschen versammeln, die sich unter dem 1989er Slogan „Wir sind das Volk“ als Mitte bezeichnen. Kaum einer der Teilnehmer möchte als rechts, rechtsradikal oder gar als Nazi eingeordnet werden. Sicherlich trifft das für einen Teil der Demonstrierenden auch zu. Doch denen muss man zumindest eine Verdrängung von unübersehbaren Tatsachen vorhalten.

Thomas Laux, Juniorprofessor an der TU Chemnitz, hat eine Studie erstellt, in der es unter anderem um die Gewinnung jener „stillen Mitte“ in Chemnitz geht. Befragt wurden dafür die im Bidbook II benannten knapp 80 Akteure. Den Rücklauf von fast 47 % bezeichnet er zwar als sehr gut für solch eine Studie, er muss aber angesichts der Gesamtzahl der Antworten einräumen: „Nein, repräsentativ ist das nicht.“ Ein Resultat ist, dass die befragten Akteure generell optimistisch sind bezüglich der Effekte des Kulturhauptstadtprozesses auf die gesamte Stadt und speziell auch deren Image, nicht aber bei der Gewinnung der „stillen Mitte“. Nur 8,3 Prozent der auf die Anfrage antwortenden Vereine und Initiativen sehen in diesem Punkt eine Motivation für ihr Engagement. Nach den Gründen für diese Zurückhaltung wurde nicht gefragt. Ein wichtiger dürfte die Unschärfe des Terminus sein.

Der Begriff der Mitte steht nicht direkt im Zentrum des Interesses einer Autorengruppe der TU Chemnitz, welche die Ergebnisse ihrer Untersuchungen unter dem Titel „Risikodemokratie“ als Buch veröffentlicht haben. Doch sie kommen um ihn nicht herum. Sie haben eine für Soziologen ungewöhnliche Arbeitsweise gewählt. Statt sich auf Umfragen, Interviews und gedruckte Quellen zu verlassen, sind sie vor Ort gegangen – in das Stadion des CFC, zur Eröffnung des Büros der Freien Sachsen, zu Demonstrationen, stellen dabei ihre eigenen Methoden immer wieder in Frage.

Zunächst ist die Arbeitsgruppe auf der Suche nach dem Klischee des rechten bis rechtsradikalen Chemnitz, wird aber im Alltagsleben nur schwer fündig. Stattdessen stellen sie eine Flucht ins Unpolitische bei weiten Kreisen der Bevölkerung fest: „Hübsch statt polarisierend, privat statt öffentlich, Ruhe statt Debatte – in diesen Entgegensetzungen offenbart sich der bemerkenswert eindringliche Wunsch, dem Politischen entkommen zu können.“ Kurz: Viele Chemnitzer möchten einfach nur ihre Ruhe haben.

Immer wieder stoßen die Wissenschaftler auf Menschen, die weder „das eine“, noch „das andere“ sein möchten. „Das Problem sei nur, dass es bei diesen Demonstrationen ja keine Mitte gebe, wo man sich hinstellen könne, dass es keinen Ort gebe, wo ‚einfach nur Menschen‘ zu finden seien.“ In Gesprächen wird dann aber schnell klar, dass ihre Haltung eindeutig nach rechts tendiert.

Wenn im Bidbook von der Gewinnung der stillen Mitte die Rede ist, geht man davon aus, diesen Teil der Stadtbevölkerung für demokratisches, solidarisches und proeuropäisches Engagement zu aktivieren. Möglicherweise ist das ein Irrtum, vielleicht weckt man schlafende Hunde?

Thomas Laux meint, dass Partizipation grundsätzlich gut für die Demokratie sei. „Mit anderen Haltungen muss man umgehen lernen, auch wenn das nicht so einfach ist.“ Er hat aber auch Probleme mit dem exakten begrifflichen Erfassen jener Mitte. „Es wird damit auch suggeriert, es handele sich um die Schicht oder Klasse, welche die Gesellschaft am Laufen hält.“ Doch eigentlich wisse man wenig darüber.

Da es keinesfalls eine homogene Gruppe sei, müsse man verschiedene Ansätze zur Aktivierung ausprobieren, rät Laux.

Sieht man sich das Bidbook genauer an, sind keine Projektideen zu finden, die sich explizit dieser Aufgabe widmen. Mit dem Slogan Brot und Spiele heranzugehen, wäre die einfachste Lösung. So lief im Januar 2023 die Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres im ungarischen Vészprem ab. Stefan Schmidtke, Geschäftsführer der Kulturhauptstadt GmbH war dabei und zeigt sich entsetzt: teuer, protzig, kitschig, nationalistisch. Auch wenn es noch eine Menge Unklarheiten wegen des Programms Chemnitz 2025 gibt, ist Schmidtke sich sicher: „So soll es auf keinen Fall werden.“

Am ehesten scheinen Projekte geeignet, die sich an die Alltagsgewohnheiten der Einwohner richten. Dazu gehört der in der Programmschrift allgegenwärtige Begriff der Macher, im Flagschiffprojekt Makers, Business, Arts kulminierend. Ein weiteres Flagschiffprojekt sind die 3000 Garagen. Chemnitzer sollen ihre privaten Hobbyräume für die Besucher öffnen und mit ihnen darüber sprechen. Wie das Vorhaben in der Realität aussehen wird, ist gegenwärtig noch schwer vorhersehbar.

Das Team der TU schreibt im Fazit des Buches „Risikodemokratie“, dass sich viele Chemnitzer einer aktiven Kollektivität verweigern. „Das ist auch der Grund, warum ‚die Mitte’ – auf der andernorts die Hoffnungen demokratischer Gemeinwesen so stark lasten – in Chemnitz weitgehend unbestimmt, amorph und flüchtig bleibt. In ihrer politischen Apathie lässt sich mit dieser ‚Mitte’ nicht rechnen, politisch gesehen wird sie zur Risikogruppe.“

Das klingt hart in Bezug auf die Vorgabe des Bidbooks. Diese stillschweigend aus dem Programm zu streichen, ist unmöglich. Damit würde der Titel als Ganzes gefährdet. Man muss lernen, damit umzugehen.

Genau das sehen die Autoren der Studie über diese Stadt „an der Schwelle zwischen rechtsradikaler Hochburg, apolitischer Sehnsucht und europäischer Kulturhauptstadt“ genau so: „Wenn es im Zuge des Kulturhauptstadtprozesses gelingt, wirksame und nachhaltige demokratische Formen des Umgangs mit jenem Risiko zu entwickeln, dann könnte zugleich ein Modell von allgemeiner Bedeutung für die Demokratie entstehen. Wie der Weg auch aussehen mag, es wird sich daraus viel lernen lassen, weit über den hier analysierten Fall Chemnitz hinaus.“ Rezepte für den Weg können sie allerdings nicht geben.

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