Sehnsucht nach den Neunzigern

Auf der Suche nach einem Buch fielen mir vor Kurzem mehrere Bände über Grafidesign in den 1990er Jahren in die Hände: Neville Brody, David Carson, Why not? Beim Blättern kommen nostalgische Gefühle auf. Diese fröhliche Anarchie. Dieses postmoderne „Anything goes“, das sich in der Architektur zu dieser Zeit schon überlebt hatte. Die Möglichkeiten früher Bildbearbeitungs-, Grafik- und Satzprogramme wurden bis an die Grenzen getrieben. Gesetze von Gestaltung und Typografie galten nicht mehr, bis hin zur Unlesbarkeit.

Von der Zeitschrift „Lowdown“ habe ich etliche Exemplare trotz prekärer finanzieller Situation gekauft und immer noch im Regal stehen, obwohl mich die Kernthemen Hip Hop und Skaten gar nicht interessieren. Allein die Frechheit des Layouts hat mich fasziniert.

Zur gleichen Zeit wurde die Love Parade unter dem Motto „Friede, Freude, Eierkuchen“ zum weltweit ausstrahlenen Mega-Event. Ich war nie dabei, weil Techno einfach nicht meine Musik ist. Aber einmal, als meine Tochter da war, habe ich zumindest im Fernsehn zugeschaut, wie ein offenbar unter Stoff gesetzter Gotthilf Fischer Blödsinn laberte. Und ich fand es interessant. Von einer hedonistischen Spaßgesellschaft war die Rede. Ganz ehrlich – ich wünsche sie mir zurück.

Etwas eher trällerten die Skorpions „Wind of Change“. Im Moskauer Gorki Park kommen Soldaten vorbei und spüren den Wind des Wandels. Und ganz Europa trällert und pfeift mit. Vielleicht nicht ganz Europa. Aber ich habe es geglaubt.

Damals machte Francis Fukuyamas Buch „Das Ende der Geschichte“ Furore. Daran allerdings habe ich nicht geglaubt. Dafür hätte der Kapitalismus zu Ende gehen müssen. Doch für Fukuyama war nun gerade der offensichtliche weltweite Sieg des Kapitalismus Garant für die Überwindung der Systemkonfrontation.

Privat waren für mich die Neunziger eigentlich gar nicht rosig. Mehrfach arbeitslos, dazwischen befristete und nicht sonderlich gut bezahlte Jobs. Davon dann eine zugewanderte Familie ernähren. Der Unterschied zu heute war aber: Wir dachten, es kann nur besser werden. Aufbruchstimmung. Mit einem kaputten Wartburg und einem winzigen Bergzelt sind wir zu dritt nach Paris gefahren. Von den 900 Mark, die ich hatte, sind in der Schwäbischen Alb fast 600 für das Wechseln der Kupplung draufgegangen. Aber wir waren in Paris. Zwei Tage!

Heute bin ich nicht im medizinischen Sinne depressiv, aber im politischen. No Future!

Wann ist das gekippt, wann sind diese Neunziger zu Ende gegangen? Sicherlich war 9/11 ein entscheidender Kipppunkt. Doch der kam ja nicht voraussetzungslos. Der arrogante Glaube an das Ende der Geschichte durch die vermeintlichen Sieger hat es vorbereitet. Noch symbolischer aber erscheint mir das Fiasko der Love Parade 2010. Schluss mit lustig.

Mein Bild der Neunziger ist geschönt. Es waren neben den ökonomischen Schwierigkeiten auch die Baseballschlägerjahre, wie Chritian Bangel es benannt hat. Stimmt. Aber die Nazis, auch die gewaltbereiten, sind wir ja trotzdem nicht los. Dafür kein Wind of Change weit und breit.

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