Im unangenehmen Windhauch der Gebetsmühle

Es ist einige Jahre her, als ich von der LVZ gebeten wurde, eine Ausstellung zweier jüdischer Künstler im Archiv Massiv der Spinnerei Leipzig zu rezensieren, die im Rahmen der Tage jüdischer Kultur stattfand. Ich bin hingefahren und fand die Bilder sehr banal, eigentlich keiner Besprechung wert. Den Artikel habe ich trotzdem geschrieben, dabei vorsichtig versucht, mein Unbehagen auszudrücken. Am nächsten Tag klingelte das Telefon. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde ruft an. Was tun? Auflegen und mich tot stellen? Hab ich nicht getan. Er sagte sinngemäß (habe keine Aufzeichnung): „Ich finde es gut, dass Sie die Ausstellung kritisieren. Man muss nicht alles toll finden, nur weil es als jüdisch bezeichnet wird.“ Noch mal gut gegangen. Aber der Fakt, dass ich darüber nachdenken muss, ob ich Künstler kritisieren darf, die als Juden bezeichnet werden, zeigt doch, dass in der ganzen Debatte um den Antisemitismus einiges schief läuft.

In einem Artikel für Die Zeit vom 27. Januar bezeichnet Eva Menasse die Antisemitismus-Jagd als Religion. Das empfinde ich auch so. Ein Glaubenskrieg, unempfänglich für Argumente. Das hat etwas von Exorzismus an sich. Das reiht sich ein in die Politik der Links-Identitären, ist darin aber ein Sonderfall.

Ich versuche es, an einigen Beispielen zu verdeutlichen:

Das Beispiel Czollek. Dazu habe ich mich schon in diesem Blog geäußert (hier und hier). Darum jetzt nur ganz knapp: Einen Sommer lang waberte eine Debatte durch fast alle überregionalen Medien. Die Kernfrage: Wer ist eigentlich Jude? Czollek baut seine ganze Identität darauf auf, Jude zu sein, weil er einen Großvater väterlicherseits hat, der das KZ überlebte. Der Halacha nach ist er dennoch kein Jude, dafür hätte er konvertieren müssen. Hat er im Unterschied zu seiner Tante Lea Carola Czollek aber nicht. Ein positiver Effekt der Auseinandersetzung war, dass endlich über die Frage, wer denn Jude sei, diskutiert wurde. Kurzzeitig. Das war einmal. Unterdessen ist die Frage nicht mehr adäquat. Alles läuft weiter wie bisher.

Das Beispiel Wolfssohn. Der Historiker Michael Wolfssohn war im Juni vorigen Jahres eingeladen, die Laudatio zur Verleihung des Wächterpreises an hervorragende Journalisten zu halten. Er benutzte die Gelegenheit zur Publikumsbeschimpfung, um seinen Hass auf die linksgrünversifften Medienmacher auszudrücken. Das darf er. Er griff aber zu falschen Behauptungen, um das zu belegen. Als im Mai 2021 erneut der militärische Konflikt zwischen Israel und Hamas aufflammte, gab es auch in Deutschland Demonstrationen. Wolfssohn sagte: Beispielhaft für die freiwillige Gleichschaltung auch von Topmedien war jüngst die Berichterstattung über die scheinbar «nur» antiisraelischen, tatsächlich aber antisemitischen Demonstrationen arabischer und anderer Muslime im Mai 2021. Es braucht nur wenige Minuten Google-Suche, um festzustellen, dass von taz bis FAZ die meisten großen Medien diese Demonstrationen als antisemitisch verurteilt haben. Trotzdem bot ihm die Berliner Zeitung paar Tage später noch einmal die Gelegenheit, seine Parolen ohne kritische Nachfrage zu wiederholen. Wenn es einen Beleg für die behauptete „Gleichschaltung“ gibt, dann die Scheu aller Medien vor einer Widerlegung von Wolfssohns Lügen.

Das Beispiel Broder, Noll etc. Das Internetportal „Achse des Guten“ ist ein Beleg dafür, dass Juden keineswegs davor geschützt sind, keine rechtskonservative bis rechtsradikale Propaganda zu verbreiten. Henrik Broder hat keine Hemmungen davor, sich von Politikern der AfD wie auch der österreichischen FPÖ vor klickenden Fotoapparaten umarmen zu lassen. Doch auch in seinen eigenen Texten in dem Portal macht er keinen Hehl aus seiner politischen Haltung am rechten Rand. Dabei ist er sich nicht zu schade für´s Grobe. So schrieb er zur Ernennung von Claudia Roth: Die Berufung von Claudia Roth zur Staatsministerin für Kultur und Medien beweist einmal mehr, dass es nicht auf Ausbildung, Begabung, Fleiß, Intelligenz und Wissen ankommt, sondern nur auf Ausdauer bei der Umsetzung des Peter-Prinzips in die gelebte Wirklichkeit. Das misogyne Rumgekotze hat er gemeinsam mit einem anderen Achgut-Autor. Claudio Casula – er hat demonstrativ eine israelische Flagge in der Twitter-Kopfzeile – machte sich wiederholt über die neue Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang auf ekligste Weise lustig, wie etwa Ricarda Lang ist symptomlos schlank. Seine Anhänger danken ihm in den Kommentaren, dass er kein Geheimnis daraus macht, ein Arschloch zu sein. Ein anderer Autor der Plattform ist Hans „Chaim“ Noll. Der israelische Staatsbürger macht sich unter anderem Sorgen um die Meinungsfreiheit in Deutschland: Ich habe mir nur eins vorgenommen: nicht zu schweigen. Und rufe alle, die noch eine eigene Meinung haben, dazu auf. Wie groß auch die Versuchung angesichts des ringsum triumphierenden Wahnsinns sein mag. So eine Aussage könnte auch vom rechtsradikalen Chef der „Freien Sachsen“ Martin Kohlmann stammen. Nicht für Achgut arbeitet der Chemnitzer Uwe Dziuballa, Betreiber des koscheren Restaurants Schalom. Er aber hat keine Probleme damit, nicht nur den Schmierenkomödianten Uwe Steimle, sondern auch die neurechte Buchhändlerin und Verlegerin Susanne Dagen zu seinem Freundeskreis zu zählen. Die Dresdnerin Dagen arbeitet eng mit Götz Kubitschek und Ellen Kositza sowie dem österreichischen Identitären-Chef Martin Sellner zusammen.

Das Beispiel Ofarim. Noch sind die Untersuchungen der Staatsanwaltschaft nicht abgeschlossen, da sagt der neue Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung Felix Klein laut Berliner Zeitung, dass der Fall Gil Ofarim dem Kampf gegen Antisemtismus geschadet habe. Aber nicht, weil es durchaus möglich ist, dass der Sänger gelogen hat. Nein, die Medien sind schuld, weil sie die Möglichkeit der Falschaussage überhaupt in Betracht gezogen haben. „Der Jude lügt!“ habe es sofort geheißen. Ofarim wird von Klein auf die jüdische Identität reduziert, weil dieser genau damit versucht, glaubwürdig zu sein. Darum gab es nach dem behaupteten Vorfall im Leipziger Hotel Westin im Oktober auch ganz reflexartig Demonstrationen gegen das Hotel und für Ofarim, weil es ja gar nicht sein kann, dass „der Jude“, der vor allem ein um Aufmerksamheit heischender B-Promis ist, lügt.

Das Beispiel „Offener Brief von Holocaust-Überlebenden“. Jetzt wird es so richtig widerlich. Eine radikale Impfgegnerin, die sich selbst als aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen sieht, schickte mir als „abschließenden Kommentar“ den Link zu einem Offenen Brief angeblicher Holocaust-Überleber an die Arzneimittelbehörde EMA der EU. Dieser Brief ist pure Hetze. Die Impfkampagnen werden mit Mengeles Menschenversuchen und dem Holocaust verglichen, die heutigen Medien mit der Goebbels-Presse. Ob es unter den Unterzeichnern des Pamphlets tatsächlich Holocaust-Überlebende gibt, ist fraglich. Die Personen, über die ich Angaben im Internet finden konnte, sind viel zu jung dafür. Ein Unterzeichner war der im November 2021 gestorbene bayrische Ex-Polizist Karl Hilz, der bei vielen Demos der sogenannten „Querdenker“ Brandreden hielt. Ich habe beim Zentralrat der Juden eine Anfrage gestellt, was dort von diesem Brief gehalten wird. Ich habe nicht meine Privatadresse benutzt, sondern die der Zeitung, für die ich arbeite, weil eben das Machwerk auch auf lokaler Ebene als „Argument“ benutzt wird. Keine Antwort.

Der Kampf gegen den Antisemitismus ist zum Ritual mit ewig gleichen Floskeln geworden. Die Chancen, in dem Kampf voran zu kommen, stehen nicht sonderlich gut. Das liegt nicht ausschließlich an der erneuten Ausbreitung rechtsradikaler Ansichten und von Verschwörungsmythen. Auch die Verantwortlichen des jüdischen Lebens, wie der Zentralrat, Medien wie die Jüdische Allgemeine, der Beauftragte der Bundesregierung und die vielen Aktiven jüdischer Gemeinden und ihre nichtjüdischen Unterstützer tragen mit ihrem unkritischen Verhalten dazu bei.

Die Frage, wer denn überhaupt als Jüdin und Jude gelesen wird, sollte endlich ernsthaft diskutiert werden. Eine Frage dabei ist, ob das 2000 Jahre alte Gesetz der Halacha noch zeitgemäß ist. Aber sollte es fallengelassen werden, sind Juden eben „nur“ noch Angehörige einer Religion. Warum eigentlich nicht? Völkisches Denken ist noch unzeitgemäßer als die Halacha.

Außerdem sollte eine offensive Auseinandersetzung mit Leuten stattfinden, die nach der Methode „Ich bin Jude, ich darf das.“ handeln. Also sollte Wolfssohns Lüge widersprochen, Ofarims vermutlicher Verleumdung nicht applaudiert werden. Und es ist eine Kritik an rechten bis rechtsradikalen Äußerungen von Juden wie Broder und Noll und Israel-Fans wie Casula notwendig. Außerdem eine klare Verurteilung dieser vermeintlichen Holocaust-Überlebenden. Die Gebetsmühle hat nicht nur ausgedient, sie ist kontraproduktiv im Kampf gegen echten Antisemitismus.

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