Flanieren in der Zeit

Es ist schon bemerkenswert, wenn eine große Buchhandelskette wie Lehmanns einen gut sichtbar positionierten Tisch mit Produkten kleiner unabhängiger Verlage einrichtet. Dort liegt unter anderem die Edition Poetikon aus dem Berliner Verlagshaus J. Frank – kleine Hefte in grauem Karton eingeschlagen. Einzelne Begriffe wie Geschlecht, Gruppendynamik oder Tradition stehen als Titel. Das Heft namens Geschichte hat der Leipziger Jan Kuhlbrodt geschrieben, als diplomierter Philosoph ist er für so ein Thema prädestiniert.

Auf weniger als 50 Seiten im Format historischer Postkarten kann man keine umfassende wissenschafliche Abhandlung erwarten. Der Untertitel Kein Weg, nur Gehen verdeutlicht zusätzlich, dass es ein nicht streng zielgerichtetes Flanieren ist. Dem scheint dann aber das vorangestellte Majakowski-Zitat Vorwärts, die Zeit! zu widersprechen. Doch die Zeiten ändern sich eben. An die heilende Kraft des sogenannten Fortschritts glauben heute eher Reaktionäre aus der marktliberalen Ecke: Hätte Majakowski allerdings gewusst, was der Fortgang der Ereignisse für ihn, für sein Land und für Europa im nach christlicher Zählung 20. Jahrhundert bereithält, hätte er vielleicht weniger aufs Tempo gedrückt. Kuhlbrodt denkt über das Verhältnis von Zeit und Geschichte nach, tut dies aber in der unter dem schönen Motto Poetisiert euch! natürlich bevorzugt an Hand belletristischer Werke. Unter Berufung auf den Religionssoziologen Jacob Taubes postuliert er, dass Freiheit zur Negation der Grund der Geschichte sei und sich aus dieser Haltung die Stellung der Kunst zur Geschichte herleite. Kunst als Einwand gegen das Unausweichliche.

Die offensichtliche Fehlprognose vom Ende Geschichte spielt hinein, aber auch das mögliche Scheitern der Aufklärung angesichts der Morgendämmerung neuer Bonapartes sogar Mitten in Europa. Allgemein ist die Hoffnung auf Besserung geschwunden. Mir persönlich ist mit meinem Abfall vom Kommunismus auch das Wollknäuel entglitten, an dessen rotem Faden Geschichte bis dahin aufgefädelt war, eine Vorstellung, die mir Halt gab, mich über den Dingen schweben und jeden belächeln ließ. Was kann nun der arme, kleine Dichter mit seinen Zeilen in diesen Verwerfungen und Ungewissheiten ausrichten?

Jan Kuhlbrodt verdeutlicht, dass sowohl die scheinbar objektive Geschichtsschreibung der Wissenschaft wie auch die literarischen Interpretationen grundsätzlich vom Standpunkt des Schreibenden abhängen. Und seiner ist der des in Karl-Marx-Stadt geborenen und sozialisierten Autor mit einer nicht zu übersehenden Slawophilie. Russische Poeten spielen für ihn also eine wichtige Rolle. Schklowski, Mandelstam, auch der weitgehend unbekannte Tschurilin. Unter der Hand verwandelt sich nun die Geschichtsphilosophie in eine Poetik. Kuhlbrodt versucht die Übertragung eines Gedichts von Igor Bulatovski und vergleicht sie dann mit der sehr freien Version von Celan. Doch das Thema geht dabei nicht ganz unter, Geschichte ist ihm in erster Linie Historie dieses katastrophischen 20. Jahrhunderts, dieser Blätterteigpastete, teils mit Senf, teils mit Marmelade gefüllt, vor allem aber mit unglaublich viel Luft dazwischen.

Das Büchlein ist ein lockerer, aber nicht gerade unbeschwerter Spaziergang durch hundert Jahre Poesie und die Widerspiegelung von Geschichtlichkeit in ihr. Nicht mehr, nicht weniger. Und was macht nun der Dichter? Schreiben natürlich, was sonst.

 

 

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