Alles (zer)fließt

Nach Das Hemd hat der schweizer Ammann Verlag ein weiteres Buch von Jewgenij Grischkowez herausgebracht. Flüsse wird als Erzählung bezeichnet, hat aber keine Handlung. Vielmehr ist es ein langes und ziemlich ungeordnetes Sinnieren eines angeblich anonymen Autors über seine Herkunft. Diese liegt in Sibirien. Aber nicht tief in der Taiga, sondern in einer großen Industriestadt. Auch wenn Grischkowez keinen Namen nennt, kann man darin Kemerowo erkennen, die Gebietshauptstadt des rohstoffreichen Kusnezbeckens, wo der heute in Kaliningrad lebende Schriftsteller tatsächlich herstammt.

Der Erzähler versucht, die Spezifik dieses riesigen Territoriums, welches aber recht arm an Höhepunkten ist, mental zu erfassen und schafft es nicht so richtig. Er leidet daran, dass dieses nördliche Asien faktisch keine Geschichte hat. Die Städte sind jung, historische Burgen oder Orte großer Ereignisse fehlen ganz.

Der Text könnte eine interessante Studie für die im Zuge des „spatial turn“ gerade beliebt werdende Soziologie des Raumes sein, auch wenn jede wissenschaftliche Genauigkeit fehlt. Der namenlose Stadtmensch scheitert in den eingeflochtenen Anekdoten seiner Kindheit und Jugend immer wieder, sich die unermessliche Natur Sibiriens anzueignen. Schließlich flieht er auch in den europäischen Teil Russlands: Und was änderte das? In Sibirien ganz bestimmt nichts! Und bei mir? Ich benahm mich genauso wie ein starker Trinker, der mit dem Trinken aufgehört hat, der früher eben getrunken hat, eigentlich mit nichts anderem beschäftigt war und mit dem Trinken all seine Kraft, seinen Verstand und seine Gesundheit verausgabt hat. Und jetzt trinkt er nicht mehr und ist damit beschäftigt, daß er nicht trinkt, das heißt, er verausgabt all seine Kräfte, seinen Verstand und seine Gesundheit damit, nicht zu trinken … Genau damit ist er beschäftigt – er trinkt nicht.

Somit ist der Rückblick überhaupt nicht nostalgisch und Grischkowez scheint sich immer wieder darüber zu wundern, dass er seiner sogenannten Heimat so wenig warme Emotionen entgegen bringen kann. Und trotzdem kann er sie eben nicht ganz hinter lassen und arbeitet sich in diesem auf unaufdringliche Weise psychologisierendem Buch daran ab.

Jewgenij Grischkowez

Flüsse

Zürich: Ammann 2010

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