Test the West

„Wurde geklaut, so ist das hier in Plagwitz.“ Der Mitarbeiter des Toom-Baumarktes an der Gießerstraße meint die auf- und abschraubbaren Abschlüsse von Wasserhähnen und Mischbatterien, die dort zur Anschauung montiert sind. Zum Glück wurden sie geklaut, sonst hätten wir Laien in Sachen Sanitärinstallation gar nicht gemerkt, dass man bei fast jedem Modell einen Adapter für einen Schlauch anschrauben kann, wie wir ihn für ihn für die Wäsche der Siebdruck-Rahmen benötigen.

Am Rande das Parkplatzes vor dem Baumarkt stehen Imbiss-Buden. Eine lockt mit Grillangeboten. Ist das Schaschlik frisch? Der Betreiber der Bude merkt, dass er sich mit uns auch auf Russisch verständigen kann. Natürlich frisch, wird gleich gebraten. Während wir warten, kommen zwei Männer rein, die er offensichtlich kennt. Auch sie sprechen russisch, sind aber wohl Armenier. Der Wirt verhält sich freundlich, aber etwas reserviert ihnen gegenüber. Der Frau aus einer anderen Nachbarbude spendiert er einen Kaffee gratis. Wir bekommen das frische Schaschlik und ein Tschebureki als kostenlose Zulage. Beides schmeckt. Doch die Leihzeit des Teilautos drängt uns zur Eile.

Karl-Heine-Straße, Magistrale des neuen Szene-Hotspots von Leipzig, zugleich die unsichtbare Grenze zwischen Lindenau und Plagwitz markierend. Gegenüber dem Westwerk, wenige Meter vor dem Karl-Heine-Kanal, zweigt die Helmholtzstraße ab. Nebenstraße. Da muss was tun, um bemerkt zu werden. Klappt unsere Aufsteller an der „West-Karli“ wirklich jemand absichtlich zusammen, oder sind sie nicht stabil genug bei heftigem Wind? Mal sehen.

Der Sommer ist heiß, ungewöhnlich heiß. Keine Zeit, zum See zu fahren, Zumindest ist es im Laden relativ kühl. Wenn wir am späten Abend raus kommen, steht die Wärme noch in der Straße. Am Fotoautomaten beim Westwerk sitzen junge Leute auf dem Fußweg, trinken und quatschen. Die Linie 14 kommt 22.44 Uhr. Oder auch etwas später. Dafür fährt sie dann mit heftigem Geschaukel ziemlich schnell Richtung Innenstadt. Morgens am Wilhelm-Leuschner-Platz ist sie häufig zwei Minuten eher weg als im Plan verzeichnet. Ausgleichende (Un-)Gerechtigkeit.

Zum Essen gehen wir in einen der vielen Imbisse an der Straße oder holen da was ab. Casablanca oder Fam. Thran Phat – es schmeckt. Nur warum sich ein türkischer Imbiss Don Kichot nennt, wird uns nicht klar. Auch da schmeckt es, aber der Mann am Tresen könnte wenigstens ansatzweise mal ein Lächeln aufsetzen.

Die nächste Kaufhalle liegt nahe der Engertstraße. Irgendwie kippt der Charakter des Viertels im Verlauf weniger Meter. Hier noch das hippe Szene-Publikum, nicht wirklich wohlhabend, aber davon träumend. Und dann gleich die Ramschläden und die Leute an den Straßenecken, die nicht wissen, was sie mit der vielen Zeit anstellen sollen, die sie haben. Zeit haben wir keine, Geld nicht viel mehr als diese Mitbürger. Doch wir tragen zur Gentrifizerierung bei. Klar, welcher bisherige Kik-Kunde kauft ein zertifiziertes, handbedrucktes Öko-T-Shirt zum mehrfachen Preis? Wir sind Verdränger. Und beneiden dennoch diese Nachbarn um ihre Freiräume.

An einem Freitagabend Mitte August gönnen wir uns den Luxus, im Biergarten des wieder auferstandenen Felsenkellers einzukehren. Das bayrische Helle, dass ausgeschenkt wird, ist nicht so unser Ding. Wir sind so etwas Schales eben nicht gewohnt. Ansichtssache. Der Palästinenser am Stand mit den nichtflüssigen Dingen fragt meine Frau, ob sie Türkin sei. Nein. „Aber du kommst doch aus Istanbul?“ Nein. Endlich mal für eine reichliche Stunde entspannen bei Falafel und Hellem. Dann schaukelt uns die 14 zügig zum Zentrum.

Fast scheint es, dass wir in einer anderen Stadt angekommen sind. Auch hier sitzen Leute am warmen Augustabend im Park, der bald Addis-Abeba-Platz heißen soll.Vor dem Späti an der Leplaystraße quatscht der Mann mit der Rasta-Mütze und dem langen Kittel wie immer mit irgendwem. In unserem Haus brennt noch in zwei Wohnungen Licht.Wir sind da. Zuhause? Sicher. Und morgen geht es wieder in den immer noch etwas abenteuerlichen Westen.

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