Spät kommt er

Da habe ich gestern abend mich noch beeilt, um vor Redaktionsschluss von „Leipzigs Neue“ meine Rezensionen zur euro-szene fertig zu bekommen. Dann lese ich heute in der Antwortmail, dass die entscheidende Datei nicht dran hing. Darum wenigstens hier meine Texte:

Feiern und gefeiert werden

Die euro-szene hat 20jähriges Jubiläum

Manche Langzeitbeobachter sagen zwar, dass dieses Festival schon mal bissiger und experimenteller war, doch hochkarätig waren auch im Jubiläumsjahr viele der Gastspiele ohne Zweifel. Und im Unterschied zum Vorjahr stand auch wieder eine Eigenproduktion auf dem Programm.

Drei Tänzerinnen und vier Tänzer brauchen auf der leeren Bühne nicht mehr als einen Stapel Wolldecken und zwei Mikrofone. Und ihre Körper. Die vor allem. In perfekter Unperfektion und enormer Intensität setzen sie sich in Beziehung zum Raum, zueinander, zu den Zuschauern. Hyperaktiv und gehemmt, sparsam und ausufernd. „Out of context“ – Choreograf Alain Platel will eigentlich keine Zusammenhänge. Doch Assoziationen drängen sich auf. Das synchron-debile Umkreisen erinnert an menschliches Balzgehabe in all seinem Ernst und all seiner Lächerlichkeit. Dem orgiastischen Disco-Gehüpfe muss schließlich der ausgedörrte Mund am Tag danach folgen. Und die weiteren Tage. Doch das Ensemble verkrümelt sich schließlich dahin, wo es herkam – in die Zuschauerreihen. Die nächste Runde muss jeder selbst rumstolpern, die Eintänzer sind weitergezogen.

Platel hat sein Stück der verstorbenen Pina Bausch gewidmet. Eine Kopie ist es trotz dieser Hommage keinesfalls, sondern etwas auf ganz eigene Weise Großes.

Der Leipziger Philipp J. Neumann hatte das Glück, in einem Wettbewerbsverfahren mit der Festival-Eigenproduktion beauftragt zu werden. Und er hatte zugleich das Unglück, mit einem Sujet anzutreten, das sich bei Platel ganz ähnlich findet – das Animalische im Menschen. Der Belgier hatte die Messlatte am Abend zuvor so hoch gelegt, dass Neumann erhobenen Kopfes drunter hinweg laufen konnte. Beim direkten Vergleich, der nahe liegt, zeigt sich die ganze Dürftigkeit dieser „Prophezeiung 20/11“. Der gesteigerte Einsatz von Effekten bis hin zu einer Herde lebender Schafe kann nicht über die all zu dünne Streuung von Ideen hinwegtäuschen. Bei der nächsten euro-szene wird man über das Thema Eigenproduktion noch mal gründlich nachdenken müssen.

Die Carte blanche des Festivals durfte 2010 der Berliner Theatermacher Klemens Wannenmacher vergeben, und er brachte „Twee stemmen“ ins Spiel. Bei dem auf Texten Pasolinis und einer realen Rede des Vorstandsvorsitzenden von Shell beruhende Stück muss neben dem Regisseur Johan Simons gleichberechtigt der Schauspieler Jeroen Willems genannt werden, der alle fünf Rollen auf brillante Weise allein spielt. Das dezidiert politische Drama handelt von den Verschränkungen zwischen politischer Macht, großer Wirtschaft, Intellektuellen und Kirche (nicht nur) in Italien. Plakativ ist es trotzdem nicht, auch der moralischen Entrüstung wird ein Spiegel vorgehalten. Die drastische Komik des Spiels ist häufig genug bitter eingefärbt.

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