Oberhalb der maschinenbetriebenen Rußstadt

Patricia Holland Moritz widmet dem Ort ihrer Kindheit und Jugend, dem Chemnitzer Stadtteil Kaßberg, einen Roman

Der Kaßberg war bis 1945 das Chemnitzer Stadtviertel der „besseren“ Schichten, ist heute wieder das beliebteste Wohngebiet der Stadt. Diese hat vor dreißig Jahren den übergestülpten Namen des aus Trier stammenden Theoretikers der Arbeiterbewegung wieder abgelegt, welcher jene Stadt „wo jeder Auswärtige sagte, er sei mal durchgefahren und sie habe eine schöne Umgebung“ nie betreten hatte. Die Schriftstellerin Patricia Holland Moritz, Jahrgang 1967, ist auf dem Kaßberg aufgewachsen, doch nur bedingt mit dieser Ulrike identisch, die zu Beginn ein unbeschwertes Kindergartenkind, zum Schluss eine dicke Teenagerin ist. Es ist ein Roman, keine Autobiografie. Und erst recht keine Dokumentation.

„Man musste etwas mitbringen, um hier leben zu können, es hier auszuhalten, ohne verrückt zu werden“, sagt die Autorin schon auf den ersten Seiten über Kaßbergen, wie der über dem Talkessel schwebende Stadtteil bei ihr heißt. Später wird aber klar, dass die Dichte an Verrückten da nicht höher war und ist als anderswo.

Bei einem Viertel der Seitenzahl fragt man sich, warum eigentlich schreibt Patricia Holland Moritz dieses Buch? Es passiert nichts Außergewöhnliches, ein exaktes Zeitgemälde ist es eben nicht, auch wenn immer wieder historische Reminiszenzen eingeflochten werden. Über den Organisten und Lehrer Stahlknecht wird berichtet, den ersten Bewohner des Kaßberges, auch über den letzten Nachtwächter. Und über den Oberbürgermeister, in dessen Amtszeit aus Chemnitz Karl-Marx-Stadt wurde, ein Urgroßvater dieser Ulrike Umlauf. Fiktion und Realität vermischen sich, der Vulkan im Zeisigwald hat tatsächlich vor 290 Millionen Jahren einen Wald versteinern lassen, ein ungarisches Heer ist aber bestimmt nicht vor tausend Jahren in den Wäldern um das noch nicht existenten Chemnitz spurlos verschwunden.

Beim weiteren Lesen kommt die Ahnung auf, Thema des Romans sei das arrangierte Überleben in einem Staat der Mangelwirtschaft, Zensur und Überwachung. Geschimpft wird viel, doch Ulrike weiß schon früh, was man nicht laut auf der Straße sagen darf. Gesoffen wird auch viel, bei fast allen wichtigen Personen der Story. Doch die geballte Faust bleibt in der Hosentasche stecken. Selbst Gonzo, der Punker vom Gerhard-Hauptmann-Platz, Ulrikes einziger Freund, aber nicht Geliebter, ist kein Oppositioneller. Dennoch hat ihn die Stasi verhaftet, nachdem ein sowjetischer Denkmal-Panzer gesprengt wurde. Er kommt frei, aus dem angeblich nicht existenten dritten Ausgang des Gefängnisses auf dem Kaßberg. Der erste führt nach Bautzen, der zweite über Anwalt Vogel in den Westen. Wer den dritten nimmt, ist nun wahrscheinlich „andersrum“, wurde also als Informant angeworben.

Mit etwas Fantasie kann man hinter dem schwulen Kunstsammler Johann „Schong“ Müller-Rabenstein den tatsächlichen Georg „Schorsch“ Brühl vermuten, wer in der bis heute an Schriftstellern so armen Großstadt dieser Autor Ronald Schaarschmidt sein soll und wer die Künstlergruppe Kljutsch, benötigt noch mehr Vorstellungskraft. Es ist eben Belletristik.

Wer wo anders herkommt, weiß vielleicht mit Begriffen wie Timurhilfe, Natoplane und Scheuerhader nichts anzufangen. Sie schaffen Kolorit, so wie Clogs und Nietenhose dem Zeitgeist der 1970er entsprechen. Aber auffällig sind handwerkliche Mankos. Der eingangs trotz seiner Schrullen so liebevoll beschriebene Großvater ist plötzlich tot, wie man nachträglich erfährt. Zwischen der ersten Klasse der Erzählerin und ihrer Jugend klafft eine unerklärte Lücke. In diese fällt sogar die Mutter hinein, die nach der Scheidung einen Wessi heiraten will, über fast 200 Seiten verschwindet, dann doch wieder nur zwei Straßen weiter wohnt, ihren Geliebten ab und zu in Karlsbad trifft. Auch die Namensfindung Kaßbergen ist fragwürdig, werden doch alle anderen Ortsnamen und Straßen korrekt benannt, bei Komposita wie Kaßbergauffahrt funktioniert es dann schon nicht mehr.

Wie beendet man einen Coming-of-Age-Roman? Wohl mit einem Ereignis, das die Schwelle zum erwachsenen Leben kennzeichnet. Gonzo kommt nicht zum Aushilfsjob in der Agricola-Buchhandlung, wo auch Ulrike ein Praktikum macht. Ihr Vater hilft ihr überraschend bei der Suche nach dem Kumpel, bricht die Wohnungstür auf.

Trotzdem bleibt ein Gefühl des Nichterzählten zurück. Auf die historischen Ausflüge hätte man verzichten können zugunsten einer dichteren jüngsten Vergangenheit und einem Ausblick.

Patricia Holland Moritz

Kaßbergen

Aufbau Verlag Berlin

380 Seiten, 22 €

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2 Antworten auf Oberhalb der maschinenbetriebenen Rußstadt

  1. Karl sagt:

    Tolles Buch.
    Karl Jahrgang 50 , Kaßberger

  2. Penti sagt:

    Wer eine Straßenbahn mit einem Steuerrad ausstattet, ist als realistischer Erzähler gescheitert.

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