Westbesuch

Das genaue Datum weiß ich nicht mehr. Aber es muss so Mitte Dezember 1989 gewesen sein, also vor mehr oder weniger genau 30 Jahren, als ich zum ersten Mal im „Westen“ war. Die Mauer war am 9. November nicht gefallen, aber porös geworden. Am nächsten Tag hatte meine Mutter Geburtstag. In Ermangelung eines Telefons ging ich wie üblich zur Post, um ein Glückwunschtelegramm aufzugeben. Aber ich kam gar nicht in die Poststelle in der Karl-Marx-Städter Straße der Nationen hinein, da schrecklich viele Leute ihren Westverwandten und -bekannten den überfallartigen Besuch ankündigten. Ich nahm mir noch einen Monat Zeit für die Reise. Irgend welche Leute kannte ich da sowieso nicht.

Dann eben an einem trübnassen Dezembertag nach Ostberlin, zu Fuß über Checkpoint Charlie – wenn schon denn schon – zum Rathaus Schöneberg, um die hundert Mark „Begrüßungsgeld“ abzuholen. Im Warteraum lag diverses Werbematerial aus, darunter eine gar nicht dünne Broschüre zu Neubauten der achtziger Jahre in Westberlin, die heute noch im Regal steht. Ich hatte meine Dissertation zur Chemnitzer Architekturgeschichte gerade begonnen, zum ersten Mal etwas von Postmoderne gehört, machte mich dann im kalten Nieselregen auf den Weg, um einige der Bauten zu besichtigen. Nach dem Einheitsgrau der ostdeutschen Vulgärmoderne kam mir manches davon wie eine Erleuchtung vor. Heute seh ich vieles anders an.

Butterbrote hatte ich mir mitgebracht, um kein Westgeld für Essen zu verschwenden. In einem Zeitungsladen brachte ich viel Zeit mit Lesen zu, habe zur Verärgerung des Verkäufers aber nichts erworben. Doch dann das eigentliche Ziel meines Besuches. In einem winzigen Laden erwarb ich einen Walkman, meine Oma hatte mir noch einige D-Mark zugeschoben. Vermutlich war das Ding überteuert, aber wie häte ich das vergleichen sollen?

Und dann noch: 1 Dose Büchsenbier. Auf der Rückfahrt im Zug nach Karl-Marx-Stadt wollte ich die Dose Becks (glaub ich jedenfalls mich zu erinnern), dann genießen. Das Achterabteil mit Schiebetür war voll besetzt. Ich hatte noch nie zuvor eine Getränkedose benutzt. Es war so ein Typ von Verschluss, den es wohl heute gar nicht mehr gibt, da musste man die Lasche ganz abziehen, um ein Loch zum Trinken zu bekommen. Natürlich brach ich den Nippel gleich ab. Die Mitfahrenden guckten skeptisch, was ich denn da tue. Ich ging in den Gang, um mit dem Wohnungsschlüssel die Öffnung durchzustoßen. Die Dose trank ich dann auch gleich da aus, um mit glücklichem Gesicht ins Abteil zurückzukehren.

Gegen Mitternacht war ich „zu Hause“, also im Mitarbeiterinternat der Technischen Universität, wo ich mir ein Zimmer mit einem Physiker teilte. Endlich eine am Radio mitgeschnittene Mixtape-Kassete in den Walkman einlegen, Kopfhörer einstecken und das Gerausche genießen. Besser als eine Dose Becks oder so. Mein erster Westbesuch. Nicht durchweg gelungen, aber durchaus interessant.

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