Der Knoten des 13. Jahrhunderts

Das Mittelalter erscheint auch heute noch, Jahrhunderte nach Erfindung dieses pejorativen Ausdrucks, für viele wie ein kompakter, dunkelschwarzer Klumpen, der sich zwischen die überschaubare, da nach wie vor andauernde Neuzeit und die zwar sagenumwobene, aber alles in allem glorreiche Antike geschoben hat. Abgesehen davon, dass dieser angeblich welthistorische Einschub nur aus (west-)europäischer Perspektive überhaupt verständlich wird, muss man doch diese angeblich ein volles Jahrtausend andauernde Düsternis nach heutigem Erkenntnisstand für einen PR-Gag der nachfolgenden Generationen halten, die sich als die großen Erlöser ansahen.

In der Geschichtsschreibung ist von mehreren Renaissancen die Rede – die karolingische und die des 12. Jahrhunderts etwa. Schließlich die „richtige“ Renaissance, die des 15. und frühen 16. Jahrhunderts, wo das Licht wieder zum Vorschein kam. Schon Jakob Burkhardt, der zumindest im deutschen Sprachraum zur Verbreitung des Renaissance-Bildes maßgeblich beitrug, differenziert viel mehr als dies einige heutige Interpreten tun. Die sehr primitive Lesart der Renaissance als eigentliche Wende schlägt beispielsweise in dem so viel beachteten wie umstrittenen Buch Empire von Michael Hardt und Antonio Negri durch. Für sie gibt es zwei Traditionslinien der Moderne: Die erste Traditionslinie setzt mit der Revolution des Renaissancehumanismus von Duns Scotus bis Spinoza ein, mit der Entdeckung der Immanenz und der Betonung von Singularität und Differenz. Die zweite Traditionslinie, der Thermidor der Renaissancerevolution, versucht die utopischen Kräfte der ersten durch die Konstruktion und Vermittlung von Dualismen zu kontrollieren und gelangt schließlich als provisorische Lösung zum Begriff der modernen Souveränität.1 Auf den Wechselbalg der Souveränität will ich später eingehen. Größte Auffälligkeit des Zitats ist, dass diese beiden sich als Neomarxisten verstehenden Denker ideelle Ursachen für solch einen gewaltigen Umbruch wie den Übergang zur Neuzeit anführen, keinen in der Sphäre der materiellen Produktion. Ausgerechnet die Humanisten sollen den Anstoß gegeben haben, die von einem Rollback in die verklärte Antike träumten und das elitäre Latein einer Verbreitung der Volkssprachen in Literatur, Wissenschaft und Liturgie vorzogen. Bereits John Wyclif hatte die Bibel ins Englische übersetzt, Dante schrieb die Divina Comedia auf Italienisch und Meister Eckhardt predigte auf Deutsch. Das wollten die Humanisten zurückdrehen. Jakob Burckhardt, der Propagandist des Renaissance-Begriffs, hielt nicht viel von dieser Sippe mit dem so schön klingenden Namen. Nach Auflistung diverser unangenehmer Eigenschaften der aufgeblasenen Gelehrten fasst er zusammen: Man fragt sich endlich, ob nicht die Verachtung der modernen Dinge, zu welcher diese nämlichen Humanisten sich bisweilen offen bekennen, auf ihre Behandlung derselben einen ungünstigen haben mußte?2

Burckhardt ist es allerdings auch, der das Schreckgespenst des dunklen Mittelalters noch etwas kräftiger konturiert. Verständlich ist, wenn er angesichts der Klitterungen der Romantik, namentlich in den deutschen Ländern, meint. Wenn jene elegischen Gemüter, die sich danach zurücksehnen, nur eine Stunde darin zubringen müßten, sie würden heftig nach moderner Luft begehren.3 Doch irrt er sich, auch dem damaligen Stand der Geschichtswissenschaft geschuldet (das Werk erschien 1860), wenn er das hohe Mittelalter mit den Zeiten des Frühfeudalismus in einen Topf wirft.

Bei jeder historischen Schnitzeljagd kann man immer noch ein bisschen weiter zurückgehen, immer entfernteren Fährten nachspüren. Wenn ich von einem Knoten des 13. Jahrhunderts spreche, ist klar, dass die sich zu dieser Zeit zusammenfindenden und sich verschlingenden Fäden jeder für sich viel weiter zurückreichen, manche tatsächlich bis in die Antike. Und es gab eben auch schon eher Perioden, in denen man von einem Fortschritt im heutigen Verständnis sprechen kann, so unter dem Frankenkönig Karl, genannt der Große.

Die Geschichte in Jahrhunderte einzuteilen, ausgehend von der angeblichen Geburt eines angeblichen Gottessohnes, ist eine Krücke. So fängt mein 13. Jahrhundert weit vor dem kalendarischen Beginn schon richtig an, und es schiebt sich andererseits weit über 1300 hinaus. Es ist nur ein Etikett, keine mathematisch exakte Einheit.

Wo beginnen mit der kritischen Lobpreisung dieses Zeitabschnittes? Ein im Unterschied zu anderen Entwicklungen ziemlich genau zu datierendes Ereignis fällt ins Auge. Um 1130 – wie schon gesagt, ist mein 13. Jahrhundert ziemlich lang – lässt der mit dem französischen Königshaus eng verbundene Abt Suger in Saint Denis die Kathedrale in einem Stil neu errichten, der später Gotik genannt wird, ebenso ein Pejorativ wie Mittelalter. Keine erdgebundene romanische Schwere mehr, ein lichtes Aufstreben zum Himmel ist fortan das neue Ideal, das sich bis 1200, relativ schnell also, in ganz West- und Mitteleuropa verbreitet. Wenn Richard Sennet in Fleisch und Stein, seiner metaphorisch aufgeladenen Betrachtung der urbanen Geschichte, 1250 als einen Wendepunkt wählt, weiß er, dass da, mit der Vollendung von Notre Dame zu Paris, schon eine volle Blüte erreicht war: Obwohl nicht nur der König von Frankreich, sondern auch der Bischof von Paris, Kirche und Staat vertretend, sich in diesem Ereignis sonnten, feierten die Pariser Notre-Dame auch als den Triumph der Bauzünfte, ließen die Steinmetzen, Glasbläser, Weber und Zimmerleute, die die handwerkliche Arbeit geleistet hatten, hochleben – wie auch die Bankiers, die die Arbeit finanziert hatten. Eine dritte Partei, die Wirtschaft, hatte auf der Bühne der Zivilisation ihr Debüt.4 Der vielschreibende amerikanische Soziologe zeigt hier deutlich mehr Verständnis als das italienisch-englische Marxistenduo Hardt/Negri.

Die Wirtschaft hatte tatsächlich Mitte des 13. Jahrhunderts schon lange die Bühne als einer der Hauptakteure betreten, auch wenn im Großen Ploetz für die Epoche irgendwelche Schlachten, Königskrönungen, Papstwahlen etc. als die herausragenden Ereignisse aufgelistet werden.

Die gewaltigen Kathedralen konnten nicht von Ablasshandel und Kirchenzehnt finanziert werden, da waren andere Kräfte nötig. Und sie verlagerten den Schwerpunkt der Bautätigkeit in die Städte, die ländlichen Burgen der die Territorien im überkommenen Lehnsystem verwaltenden Adligen zu einem Auslaufmodell machend.

Kein Zufall. Gerade die Städte, die im hohen Mittelalter aufblühten und auch in Massen neugegründet wurden bis weit in die slawischen Siedlungsgebiete des Ostens hinein, waren sichtbarster Ausdruck eines neuen, gewissermaßen modernen, Zeitalters.

Dort lebte die Geldwirtschaft wieder auf, dort konnten sich Handwerker zu berufsständischen Vereinigungen zusammenschließen, dort formierte sich die Selbstverwaltung, dort entstanden Universitäten.

Das ist schon mal ein ganzes Bündel an Faktoren des Neuen, das die Keime der Moderne in sich trägt. Lange bevor Kolumbus und da Gama über die Ozeane segelten, bevor Leonardo eine Mona Lisa malte, bevor die deutschen Bauern sich massiv gegen die Feudalherrschaft erhoben, bevor da eine sogenannte Renaissance, eine Wiedergurt des Alten, des ganz Alten, ausgerufen wurde.

Doch es kommt noch mehr hinzu, was sich im langen 13. Jahrhundert miteinander verknotete, um zu einem dicken Strang zu werden, an dem jene Renaissance nur eine auffällige, aber nicht einzigartige Markierung darstellte. Ein unvollständiger Waschzettel:

  • Herausbildung erster Nationalstaaten und Nationalsprachen
  • Horizontalisierung der zuvor statisch-vertikalen Ständegesellschaft
  • Entdeckung des Individuums
  • Aufschwung rationaler Wissenschaften
  • Elemente einer Rechtsstaatlichkeit
  • moralische Aufwertung der körperlichen Arbeit (ora et labora)
  • Beginn einer rationalen Zeitmessung
  • erste Banken
  • fortschreitende Säkularisierung (Stichwort: Canossa)
  • erste Ansätze für Nationalstaaten, Herausbildung von Landessprachen
  • wichtige Erfindungen (Brille, Papier, Schießpulver …)
  • wachsende Arbeitsteilung, damit zunehmende Entfremdung

Und ein ganz zentraler Faktor, der aus meiner Sicht die Essenz der Moderne ausmacht: Ansätze der erweiterten Reproduktion, also des Kapitalprinzips. Diese eigentliche Revolution begann nicht in der sogenannten Renaissance, erst recht nicht mit der Industriellen Revolution um 1800. Der Kapitalismus ist eine Erfindung des langen 13. Jahrhunderts. Was heute so selbstverständlich erscheint – einen Teil des wirtschaftlichen Gewinns von vornherein für die Erweiterung der Produktion einzuplanen – war damals etwas völlig Neues und blieb es in anderen Teilen der Welt bis ins 20. Jahrhundert hinein. Wir haben unter dem Namen Kapital allen Besitz so weitgehend depersonalisiert, daß uns kaum noch bewußt ist, in welchem Ausmaße dieser Verzicht, Reichtum einfach zu verzehren, dem Wesen von Besitz selbst widerstreitet.5 Hannah Arendt spricht hier aus, was selbst für Marx nicht so klar war. Während er einerseits den Beginn der Erweiterten Reproduktion ebenso im Spätmittelalter angibt, setzt er an anderer Stelle die Ursprüngliche Akkumulation, dieses Einhegen der Ländereien im England des 18. Jahrhunderts als Startpunkt des Kapitalismus.

Arendt hat recht. Bis dahin wurde Gewinn verprasst, in manchen Fällen aber auch barmherzig verteilt. Nicht aber planmäßig für eine Expansion der Produktion eingesetzt. Eine Ungeheuerlichkeit! Für damalige Gemüter.

Es waren noch einzelne Keimzellen, der Prozess der Moderne-Geburt hätte auch abgebrochen werden oder versanden können. Das katastrophische 14. Jahrhundert, in dem nicht allein die verheerenden Pest-Epidemien Rückschläge darstellten, hätte fast zu solch einem Abbruch geführt. Doch die Zellen waren offensichtlich schon stark genug, um trotz dieser Einbrüche schließlich zum Ende dieses ach so düsteren Mittelalters in die glanzvolle Renaissance zu führen, die angeblich richtige, einzige Renaissance, die auch heute noch von Vielen als die wahre Geburtsstunde der Neuzeit angesehen wird.

1 Hardt, Michael, Negri, Antonio: Empire. Frankfurt a.M.: Campus 2002, S. 153.

2 Burckhardt, Jakob: Die Kultur der Renaissance in Italien, in: Das Geschichtswerk. Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 2007, Bd. I, S. 499.

3 Ebenda S. 462.

4 Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 193.

5  Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München/Zürich: Piper 1986, Teil 2, S. 250.

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5 Antworten auf Der Knoten des 13. Jahrhunderts

  1. g.h. sagt:

    Hallo Jens,

    an Deinem Blog steht bei den Kurzfassungen immer WEITERLESEN,
    und Du hast auch ein paar Empfehlungen unten dran gehängt.
    Ich hätte auch noch zwei:

    1. Ein Buch, daß sich vermutlich so schlecht verkauft hat,
    daß es schon lange nicht mehr aufgelegt wird und nur noch
    aus zweiter Hand zu bekommen ist:

    https://www.amazon.de/Neandertal-abenteuerliche-Geschichte-Menschen-Hochhaus/dp/3257214537

    Die Kapitel über das Mittelalter sind die besten in diesem
    Buch; der Anfang mit den Pyramiden gefällt mir nicht so.
    Die gotischen Kathedralen, aber auch arabische und jüdische
    Gotteshäuser werden besprochen, selbst das letzte Kapitel
    (über die Reichskanzlei) ist interessant.

    2. Und selbstverständlich muß man das Buch von Illig zumindest
    gelesen haben – nicht um es zu glorifizieren oder total zu
    verreißen, sondern um klar zu erkennen, wie schmal die
    Faktenlage der Bauwerke und archäologischen Funde für das
    Mittelalter ist.

    Gibt es auch wieder mal neu aufgelegt:

    https://www.amazon.de/Das-erfundene-Mittelalter-Heribert-Illig/dp/3548364292/ref=sr_1_3?s=books&ie=UTF8&qid=1492530243&sr=1-3&keywords=mittelalter+zeitrechnung

    Und wenn man jetzt weiß, wie wenig man über diese Zeit weiß,
    ist einem auch klar, warum da soviele Leute soviel
    hinein-interpretieren. Das kann man nämlich sehr gut, wenn
    man sich nur an wenigen Fakten entlanghangeln muß.

    GvH

  2. admin sagt:

    Danke für die Hinweise. Ich muss aber selbst noch eine Quelle ergänzen, die nicht in den Fußnoten steht: Aaron J. Gurjewitsch „Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen“. Es erschien 1972 in Moskau, danach in deutscher Ausgabe in der Fundus-Reihe des Dresdener Verlages der Kunst. Das Buch ist in doppelter Hinsicht bemerkenswert. Erstens, weil da ein Historiker eines sozialistischen Landes ohne klassenkämpferische Attitüde schreibt, zweitens, weil er Russe ist, solche Kategorien wie Mittelalter und Renaissance für die russische Geschichte aber keinen Belang haben. Darum schreibt er auch konsequent über Westeuropa und stützt sich auf eine Masse an westlichen Quellen. Dabei wird klar, dass Begriffe wie Zeit, Eigentum und Macht für die Menschen dieser Jahrhunderte ganz andere Inhalte hatten als heute.

  3. admin sagt:

    Habe grade mal die Links angeklickt. Das erste Buch mag ja amüsant sein, doch dieser Illig ist ja wohl ein früher Träger des derzeit groß in Mode gekommenen Alu-Hutes, also ein Spinner, um es mal vorsichtig zu formulieren. Solche Chronologiekritiker gibt es ja einige mit zumeist ausgesprochen abenteuerlichen Umschreibungen gesicherter historischer Fakten. Zweifellos gibt es Fehler und Irrtümer gerade bezüglich schlecHt dokumentierter Abschnitte wie dem frühen Mittelalter. Deswegen aber 300 Jahre schnell mal zur nachträglichen Erfindung zu deklarieren ist fernab jeder Seriosität. Mir kommt es aber in meiner Artikelreihe unter der Rubrik „Tagebuch der Moderne“ ohnehin nicht darauf an, Geschichte nachzuerzählen. Vielmehr versuche ich zu ergründen – enttäuscht von vorhandenen Darstellungen – was eigentlich Ursprung und Auslöser dieser heute so allmächtigen Moderne ist. Und wie man vielleicht einen Ausweg findet, ohne zum Romantiker und Reaktionär zu werden.

  4. g.h. sagt:

    Ja, Illig ist schwierig und mit ÄUSSERSTER Vorsicht zu genießen, gar keine Frage.
    Aber: er hat eben auf ein Problem hingewiesen, das es wohl wirklich gibt, und vielleicht gar nicht so selten ist – der Zeitverlauf (nachvollziehbar u.a. durch Gestirne, Sonnen- und Mondumrundungen und daraus: Oster-Termine) weicht wohl immer mal von der GeschichtsSCHREIBUNG ab.
    Die Gestirne bewegen sich einfach so vor sich hin, aber die Menschen, die Geschichte aufschreiben, haben dabei eben gewisse Interessen; und da können gewisse Differenzen entstehen. Ich fand und finde das interessant. (Aber ich bin natürlich nicht verpflichtet, das alles zu glauben.)

    —–

    „Ursprung und Auslöser dieser heute so allmächtigen Moderne“ – naja, ich sage mal: vielleicht war es die Tatsache, daß in der Folge der technischen Vereinfachung der Produktion und der Arbeitsteilung ein paar Leute wirklich mehr Zeit und Geld hatten, und sich dann damit selbst beschäftigt haben (um nicht durch Rumsitzen zu verblöden), moderne „Kunst“ zu erzeugen. Es kamen aber bloß Kritzeleien dabei raus.
    Sowas zum Bspl.:

    http://arttattl.ipower.com/Images/Europe/Germany/Frankfurt/die%20Stadel/Constellations%20V/Picasso_Femme_accroupi_1960.jpg

    Von Kunst keine Spur. Da würde ich auch ein Enttäuschung verspüren. Ein Ausweg fällt mir nicht ein.
    Noch ein schöner Link dazu:

    https://www.heise.de/tp/features/Das-Unbehagen-an-der-Wirklichkeit-3408303.html

    GvH

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