Besuch der alten Dame

Ein hoher Lehnstuhl steht mittig auf der Bühne. Auf einen Stock gestützt betritt sie die Szene. Marianne Faithful, 68. Aber in ein schickes schwarzes Kostüm gekleidet, auch die Musiker tragen Anzug. Nach zwei Songs aus ihrem frischen Album erklärt sie den Grund des nicht sonderlich dynamischen Auftritts. Sie hat sich vor vier Monaten den Hüftknochen zertrümmert, trägt jetzt eine Titanplatte.

Ist ja kein Beinbruch. Solange noch die Stimme da ist, die schon vor Jahrzehnten den entscheidenen Bruch erlangte, dank etlicher Stangen Zigaretten, viel Alkohol und anderen Stimulanzien. Dem unverbindlichen Geträller der Sechziger folgte dieses unverwechselbare Timbre. Und es ist noch da. Okay, nicht jeder Ton sitzt exakt auf der vorgehenen Notenlinie, auch verschleift sich manchmal das Tempo, sie arbeitet entschleunigend. Vor allem bei den berühmten Songs der Siebziger wie Broken Englisch oder Working Class Hero mit dem unnachgiebigen Drive von Bass und Schlagzeug wird das hörbar.

Was solls? Die hervorragenden Musiker fangen solche Abweichungen professionell auf, verarbeiten sie kreativ. Und Marianne thront im Spotlicht, lobt ihre Jungs süffisant und kriegt sich kaum ein vor Lachen, als sie versehentlich behauptet, sie sie nun seit 150 Jahren auf der Bühne. 50 ist aber auch schon viel. Und sie kann ohne irgend welche Show, ohne Luftballons und Tänzerinnen das überwiegend auch schon gereifte Publikum immer noch begeistern. Als Abschluss nach exakt anderhalb Stunden natürlich die unvermeidliche Ballad of Lucy Jordon. Da bleibt dann eigentlich gar nichts übrig für eine Zugabe. Diese bleibt konsequenterweise auch aus. Die Lady muss ins Bett. Hat sie sich redlich verdient.

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Eine Antwort auf Besuch der alten Dame

  1. g. haase sagt:

    Das neue Album gibt es natürlich auf Vinyl (und die CD ist da mit dabei).
    http://www.discogs.com/Marianne-Faithfull-Give-My-Love-To-London/release/6151502

    GvH

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