Vor dem Fest ist nach dem Fest

Wir sind begeistert. So etwa könnte eine Rezension von Saša Stanišić´ zweitem Roman anfangen, die seine Erzählweise aufnimmt. Diese Perspektive des Wir seitens eines aus Bosnien Zugewanderten, der ein ganz durchschnittliches Nest in der Uckermark darstellt, könnte leicht als Ironie, wenn nicht gar Zynismus verstanden werden. Doch Stanišić´ gelingt eine Empathie, die niemals ranschmeißerisch wirkt. Gut, dass er der Versuchung widerstand, dem grandiosen Erstling Wie der Soldat das Grammofon repariert schnell ein weiteres Buch hinterherzuwerfen. Ganze sechs Jahre hat er sich Zeit genommen. Gut, dass dieses zweite Buch so ganz anders ist als das erste. Gut, dass er nicht Maxim Billers Verdikt folgt, ein Immigrant habe in Deutschland immer Immigrantenliteratur zu schreiben, um nicht mit den ewig spätfaschistoiden Gojims gemeinsame Sache zu machen. Saša Stanišić´ hat stattdessen einen deutschen Heimatroman geschrieben. So einen, der auch für jeden, der beim Begriff Heimat, noch dazu deutsche, eher Würgereflexe bekommt, einen Anflug von Wärme aufkommen lässt. Oder zumindest Verständnis. Da ergeben sich Parallen zum Film Full Metal Village, in dem die Koreanerin Sung Hyung Cho die Bewohner des holsteinischen Dorfes Wacken porträtiert und das Ganze zu Recht im Untertitel „Ein Heimatfilm“ nennt.

Dieses uckermärkische Fürstenfelde ist so real wie fiktiv. Stinknormal für die ostdeutsche, vor allem nordostdeutsche Provinz. Die Leute von dort kennt jeder, der schon mal in der ostdeutschen Provinz war. Es ist der Tag vor dem Fest, dem frühherbstlichen Annenfest. „Was wir feiern, weiß niemand so recht.“ Aber Höhepunkte müssen sein in dieser so ereignisarmen Gegend. Obwohl: es ereignet sich doch Einiges. Die Glocken des Kirchturms stehen plötzlich auf der Straße, während der Glöckner-Lehrling im Archivraum der „Heimat“ (sic!) von der eigenen Mutter eingeschlossen wurde. Ein Ex-Offizier wird von einer asthmatischen Jugendlichen vor dem Selbstmord und dem Tabakentzug gerettet. Und noch so einiges.

Wie in James Joyces Ulysses verdichtet sich das Panorama eines Ortes auf einen einzigen Verlauf von 24 Stunden. Vieles passiert, nichts passiert wirklich. Wenn das Fest beginnt, ist fast alles wie am Vortag. Alle leben noch, bis auf den Fährmann, dessen Freitod im See schon im dritten Satz des Buches verkündet wird. Er bleibt tot. Dennoch lässt Stanišić vieles offen, unerklärbar. Der Adidasmann mit seiner frühmorgendlichen Vorliebe für Puddingschnecken wie auch die nur in Reimen sprechenden zwei Fremden, einer groß, einer rund, bleiben ohne Biografie. Ganz im Gegensatz zu den echten Fürstenfeldern. Einschübe chronikalisch festgehaltener, gar erschröcklicher Geschehnisse früherer Jahrhunderte zeigen, dass es hier schon immer so war. Viel passiert, nicht passiert wirklich. Sogar die Namen der Personen bleiben konstant. Der frühere Kleinadlige hieß so wie sein Nachfolger, der heutige Landmaschinenhändler, Poppo von Blankenburg. Und Annas gab es damals, wann auch immer das war, so viele wie heute. Und immer wichtig für die Handlung.

Um den Spannungsbogen bei solch einer Normalität des Geschehens aufbauen zu können, reicht nicht der feine Humor aus, den Stanišić schon im Grammofon trotz des viel dramatischeren Themas des bescheuerten Krieges zwischen alten Nachbarn zeigte. Es ist auch eine Art von Beherrschung der Sprache nötig, die den Flüchtling von vielen deutschen Muttersprachlern abhebt. Dass er Worte wie Fähe kennt oder bei den historischen Episoden „bellen“ als starkes Verb (Der Hund boll) anwendet, sind da eher Nebensächlichkeiten. Angenehme allerdings. Welcher deutschnationale „Identitäre“ hat solch ein Gefühl für Feinheiten? Vor allem aber kann Saša Stanišić jeder handelnden oder verharrenden Person einen eigenem Klang verleihen. Das kommt manchmal ein Rhythmus rein, wie ihn zeitgenössische Lyrik nur selten hat. Wir sind begeistert.

Saša Stanišić: Vor dem Fest

Luchterhand Literaturverlag München 2014

ISBN 978-3-630-87243-8

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