Hoch auf der Stiege

Im durchweg lesens- und sehenswerten, 250 Seiten dicken Begleitbuch der Münchner Opernfestspiele 2009 findet sich gleich zu Beginn ein Aufsatz von Jan Tabor mit dem wundervollen Titel traktat als symposionistisches manifest über die andauernden gesellschaftlichen dissonanzen in musiktheatern und anderen geschlossenen anstalten des gutbürgerlichen an- und stillstandes, wie etwa festspiele, festwochen, festivals und desgleichen sowie über das kontrarevolutionäre syndrom der garnierschen prachtstiege, das diese anstalten lähmt. Der Text bringt mich auf der anhaltenden Suche nach der Fata Morgana namens Hochkultur ein gutes Stück weiter. Denn Tabor, ein tschechisch-österreichischer Kulturtheoretiker und -praktiker, schreibt darin: die heutigen theater sind die letzten disziplinierungsanstalten des bürgertums. der besucher wird gleich am tor von zahlreichen sichtbaren und unsichtbaren betreuern und begleitern übernommen, die seine zeit hier bis zum letzten augenblick gestalten und lenken. er hat seine individualität an der garderobe abzugeben und sich strengen regeln zu unterwerfen, die, näher betrachtet, den zeremonialen der vergangenen autoritativen gesellschaftsformen entsprechen. (…) die belohnung für die unterwerfungvon exklusivem und hoffentlich auch exzellentem kunstgenuss abgesehen, der kommt noch dazu – ist allerdings nicht schlecht: die befriedigung einer überaus kulturmenschlichen, um nicht zu sagen zivilisatorischen sehnsucht: dazugehören, wo macht, reichtum, einfluss, glück und schönheit zusammenprallen. die wahnehmung der hochkultivierten möglichkeit der befriedigung von voyeuristischen und exhibitionistischen gelüsten in der gesellschaftlich bestens sanktionierten form.

Endlich einmal ein Erklärungsansatz, der Hochkultur nicht negativ als das beschreibt, wovon sie sich abgrenzt, sondern der positive Erkennungsmerkmale aufführt: Sehen und gesehen werden als Ausweis der Zugehörigkeit zur herrschenden Schicht. Das hat was. Zwar lässt es sich nicht auf alle Kultursparten übertragen, aber für Musik und Theater ist es sehr überzeugend formuliert. Und Symbol dessen sei eben die garniersche prachtstiege, also das gewaltige Treppenhaus, das Charles Garnier dem Pariser Opernhaus 1875 verpasste und seitdem zum Standardvokabular all solcher Institutionen gehört.

So erklärt sich auch, warum es immer lautstarke Proteste gibt, wenn einem Musikteater die Mittel vorsichtig gekürzt werden sollen, die Protestierenden aber nicht durchweg Kenner der Opernszene zu sein scheinen. Wichtiger als die Bühne ist ihnen nämlich das großzügige Foyer. Das darf nicht weggekürzt werden.

Dieser Beitrag wurde unter kulturpolitik veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.