Rede zur Vernissage „Kunstetagen“ des CKB am 19. Juli 2025 im Sporthochhaus
Mehrere Stunden habe ich nach einem Zitat gesucht. Ich meinte es bei Peter Hacks gelesen zu haben, dem mittelmäßigen Dramatiker und großartigen Spötter. Die Suche zwar war keine Zeitverschwendung, durchaus amüsant, dennoch vergebens. Also rekonstruiere ich, was ich meine, vor drei Jahrzehnten gelesen zu haben, so wie er es geschrieben haben könnte:
„Finden Sie nicht auch, hochverehrte Belinde, dass Schmerz, Trauer, ja sogar die Wut erheblich ergiebigere Produktivkräfte für jeden Dichter, Maler, Tonsetzer seien als das einlullende Glück, die erfüllte Liebe, die Anerkennung? Anders gesagt, Belinde, das schartige Rasiermesser an der Schlagader ist die bessere Feder, der bessere Pinsel, die bessere Klaviatur als der silberne Honiglöffel im Schlund.“
Anschaulicher Beweis für die These, sollte Hacks sie jemals so geschrieben haben, ist doch die Existenz des Blues. Joe Sachse kann ein Lied davon singen. Gleich werden Einwände kommen. Was ist denn mit der Ode an die Freude? Stimmt schon. Es ist nicht übel, was der dauerhaft finanziell gebeutelte Schiller in einer Gohliser Bauernkate notierte und später der taube, halbtote und verbitterte Beethoven vernotet hat.
Wie krieg ich jetzt endlich die Kurve vom Schmerz auf Chemnitz? Über ein Gegenbeispiel. Was war Max Klingers Produktivkraft für sein Monumentalgemälde im Neuen Rathaus? Der mit einer jungen Frau reichlich ausgelastete, wohlhabende, berühmte Leipziger malte, ewig nicht fertigwerdend, nackt tanzende Musen auf der Schloßteichpromenade, welche verdammt nach Ägäis aussieht. Was für ein Fehlgriff! Zumindest musste ihn nicht die Kommune bezahlen. Zu jener Zeit formte der Rottluffer Müllerssohn Karl Schmidt mit Kumpels die herbe Landschaft der Vorerzgebirges in eine ruppige Malweise um, stellte Martha Schrag in ähnlicher Weise das proletarische Elend in Rußchamtz dar.
Warum erzähl ich das? Chemnitz ist Kulturhauptstadt Europas. Zu jedem Festakt, jeder Gala mit geladenen Very Important Person erklingt der Singsang vom schönen Götterfunken. Viele andere hier vor Ort haben sich eingeladen gefühlt, wurden nicht eingeladen, oder doch eingeladen, ausgeladen, verladen. Ungesehen. Haben resigniert, manche auch intrigiert. Oder telefoniert, organisiert und produziert, aus jenem schmerzlichen Grund, wie ich ihn im einführenden Zitat des Philanthropen Arthur Schopenhauer schon erwähnt habe.
Was heute hier stattfindet ist erstaunlich. Es steht nicht im tausendseitigen Programmheft der Kulturhauptstadt, ebensowenig wie Joe Sachses anderthalbstündige Improvisation zur Eröffnung des großen Feuerwerkes im Januar. Wir stehen hier in einer Brache, perfekt gelegen zwischen City und Hartmannfabrik sowie Markthalle, wo in sechs Wochen ein weiteres Kunstereignis startet. Kunstetagen nennt sich die Ausstellung. Man stapelt hoch und könnte doch noch paar der bewohnten Stockwerke zusätzlich beanspruchen. 35 von rund 120 Vereinsmitgliedern zeigen Vielfalt. Ein Label „typisch Chemnitz“ ist unauffindbar. Es ist Weltkunst, gemacht in Chemnitz und Region.
Kleiner Rückblick. Ich muss hier niemandem erzählen, wie Chemnitz vor einem halben Jahrhundert zu einer Adresse an der Schlossallee der Kunst aufstieg, die es zuvor trotz Schmidt-Rottluff, Schrag, Schestak und so weiter nicht war. Akteure sind anwesend, mehr noch Zeitzeugen, die es besser wissen müssen als ich, der an einer oberlausitzer Dorfschule von Alber-Schneider im Zeichnen mehr schlecht als recht unterrichtet wurde. Ich will nur an die Produktivkraft erinnern, die das bewirkt hat. Es wäre vermessen zu behaupten, dass es Kollegen in Dresden und Leipzig immer leicht hatten. Das Nest war dennoch dort viel wärmer. Hier aber, in diesem Karl-Marx-Stadt, bedurfte es des schartigen Rasiermessers am Hals, wie es im einführenden Zitat der ewige Griesgram Lou Reed ausgedrückt hat, um nicht mehr zu den Ungesehenen zu gehören. Der Aufbruch wirkte weiter, noch eine Generation von Rebellen rückte nach, manchmal schon gegen die Pioniere rebellierend.
Dann aber wurde plötzlich der Stachel stumpf, nicht ganz ohne Mitwirken der Rebellen. Auch ohne zwei Jahre guter Führung als Verbandskandidat durfte sich jeder Staubsaugervertreter und jede Selbstverwirklicherin als Künstler:in bezeichnen. Also suchten manche nach Abstand, den sie in einem großzügigen Dachgeschoss fanden. Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, wie das beim halluzinierten Zitat der entflammbaren Ingeborg Bachmann vielleicht der Fall ist, wollten sie sich damals bewusst von den Erben der Helfershelfer des Rasiermesser absetzen. Doch auch Genies altern, und ohne Kopfschwangerschaften werden es mit der Zeit weniger.
Ich sagte schon, dass hier gerade etwas Erstaunliches passiert. Künstlerbund und Kunst für Chemnitz kooperieren, um in diesem Jahr nicht die großen Übersehenen zu bleiben. Das muss keine Liebesheirat sein. Sie stellen diesen vielfarbigen Klotz namens Sporthochhaus zwischen Stadt und Besucherzentrum. Stefan Schmidtke würde nun sagen: Genau das war doch unser Ziel, dass ihr euch selbst eine Kulturhauptstadt malt, graviert, webt, meißelt und lötet. Mission erfüllt, Herr Schmidtke.
Und nun? Möge diese faustische Angst, zum Augenblicke versehentlich zu sagen, er solle doch in seiner Schönheit verweilen, hoffentlich nicht so bald vergehen, und jene verneinende Kraft, die Gutes schafft, noch an Schwung gewinnen. Es ist mal wieder so weit, den Honiglöffel aus dem Schlund zu nehmen. Sonst kann man nämlich nicht schreien.