Der gar nicht so kurze Post zum langen Abschied

Der Regionalexpress R6 fährt trotz Winterwetter fast pünktlich in Chemnitz ab, aus diesem so überdimensioniert im Verhältnis zur Zahl der Zugverbindungen wirkenden Hauptbahnhof. Vor fast fünf Jahren fuhren wir mit einem gemieteten Transporter diese Strecke ebenfalls bei Schnee und Eis, die letzte Fuhre des Umzugs nach Leipzig. Dass ich noch einen ganzen Fünfjahrplan dranhänge, um Woche für Woche im Netzwerk für Kultur-und Jugendarbeit zu werkeln, hätte ich damals nicht gedacht. Nun ist auch damit Schluss. Doch ganz lässt mich Chemnitz immer noch nicht los. Ein Buch über das Rathaus, das im nächsten Herbst 100 Jahre wird, ist in Arbeit. Andere Aufträge folgen vielleicht.

Am Ende des Studiums, 1988, wäre ich schon gern in Leipzig geblieben. Aber da ich kein ganz braver Student war, bekam ich als Auswahl Magdeburg, Merseburg und Karl-Marx-Stadt als Arbeitsorte angeboten. Das letzte schien mir das kleinste der Übel. Am Ende sind 18 Jahre Aufenthalt draus geworden. Als ich mich für die Dissertation intensiv mit der Architektur von Chemnitz befasste, merkte ich, dass dazu noch nicht viel da ist. Eine Marktlücke sozusagen. Das war ein Grund zum Bleiben, daraus müsste sich doch was machen lassen. Zwar sind dann auch einige Bücher zum Thema entstanden, aber das ist nichts zum dauerhaften Überleben. Der andere Mensch, der sich auch auf publizistischem Gebiet damit beschäftigt (hat), Tilo Richter, lebt schon lange in der Schweiz und hat es meines Wissens aufgegeben, Bücher über Chemnitz zu machen.

Eine traurige Stadt. Mir ist häufig vorgeworfen worden, sie in den Schmutz zu ziehen. Das ist Blödsinn. Ich kenne zumindest die bauliche Gestalt von Chemnitz besser als 95 Prozent der Eingeborenen, und auch die menschlichen Inhalte nicht ganz schlecht. Darum habe ich keine Schadenfreude, wenn wieder mal was schiefgeht. Und es geht viel schief, zu viel. Symbolträchtig dafür ist das vorsätzliche Scheiternlassen des Experimentellen Karrees. Da ist es unwichtig, ob zeitgleich die Letzte 1A-Baulücke in der City mit einem Behördenbunker gefüllt wird. „What is the City but the people“ soll in Shakespeares Coriolan stehen, hat mir Prof. Christine Weiske gesagt, die selbst von ihrem Job in Chemnitz in die viel kleinere Wohnheimat Weimar pendelt. Das ist es eben, die Menschen. Davon habe ich in den 18 plus 5 Jahren Jahren viele interessante, kreative, engagierte kennengelernt. Komme mir deshalb manchmal als Verräter vor, wenn ich sie immer noch kämpfen sehen, so aus der Ferne betrachtet. Und wie sie gegen eine Wand laufen aus Ignoranz, Unbeweglichkeit sowie Selbstzufriedenheit, die häufig nur eine Abwehrreaktion der eigenen Unsicherheit ist.

Chemnitz hat so wie Potenzial wie es eine Stadt von 240 000 Einwohnern hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nur wird dieser Schatz eben unproportional kleiner. Die Leute, die gehen, sind keine einfache 1 in der Statistik. Häufig sind es welche, die durch 10 Dableibende nicht wirklich aufgewogen können. Damit meine ich nicht mich, auch wenn ich überrascht war, dass mich vorige Woche der Netzwerk-Vorstand mit offenbar echtem Bedauern verabschiedet hat. Ich habe da spätestens im vorigen Jahr alle Illusionen verloren. Dass ich das hier in diesem Blog auch so deutlich gesagt habe, ist mir übel genommen worden. Von Tom Schilling beispielsweise. Doch eine Mail, dass der Wattehaufen brennt, habe ich bisher von ihm noch nicht bekommen. Auch hat er sich nicht mit den Füßen voran aus der Reba tragen lassen.

Provokation hilft manchmal, eingefahrene Gleise zu verlassen. Nicht unbedingt in Chemnitz. So war mein Vortrag an der TU im vorigen Jahr durchaus als Provokation gedacht. So wurde er zwar verstanden, aber nicht im produktiven Sinne, nur als Nestbeschmutzung. Irgendwann gibt man dann die Hoffnung auf. Sollte sich doch noch eine Wendung zum Besseren ergeben, werde ich mich freuen. Ehrlich.

(Nachsatz: Begonnen wurde der Beitrag am 21. Dezember, die Feierstagshektik hat dann die Fertigstellung verhindert. Nun, eine knappe Woche später, endlich die Veröffentlichung.)

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9 Antworten auf Der gar nicht so kurze Post zum langen Abschied

  1. Finn sagt:

    Hi wo ist der Facebook Gefaellt mir Button? 😉

  2. ist der vortrag verschriftlicht, liegt ein mitschnitt vor. wir interessieren uns.

    sehr freundlich,
    hallo chemnitz

  3. admin sagt:

    @finn: kommt noch, sobald ich weiß, wie man das macht. Bin erst seit einer Woche bei Facebook, muss noch lernen.

  4. die suche bei facebook spuckt folgendes aus: „Meintest du:jeans kassner“

  5. admin sagt:

    Diesen Namen hatte ich auch mal 1984 auf einem polnischen Betriebsausweis in „Nowa Hutta“ stehen, benutze ihn aber seitdem nicht mehr.

  6. hihi.
    aber: ich find dich/sie nicht bei fb

  7. admin sagt:

    Hmm, ich finde auch nur einen Jens Kassner, der ich garantiert nicht bin. Ich weiß nicht, wie lange man da registriert sein muss, um in der Suche zu erscheinen.Allerdings funktioniert der Link zu deiner Seite (oder der als Absender benannten) auch nicht.

  8. admin sagt:

    .. und wer gibt sich eigentlich den Usernamen „antisemitismus“ mit falscher Verlinkung? Nicht lustig. Daumen nach unten.

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