Als Christoph Heins „Das Narrenschiff“ zur Leipziger Buchmesse dieses Jahres präsentiert wurde, bekam es jede Menge Lob in diversen Medien. Ich habe nun meine Kur genutzt, die 750 Seiten zu lesen.
Als Panorama der DDR-Zeit und so ähnlich wird das Buch gepriesen. Das ist es durchaus. Die Handlung beginnt im Mai 1945 und endet in den frühen 1990er Jahren. Hein erzählt die Geschichte dieses Staates, doch er erzählt nicht wirklich. Er berichtet.
Die Zahl der Protagonisten ist sehr überschaubar. Mit Ausnahme von Kathinka Goretzka gehören die Personen der politischen Nomenklatur an, wenn auch nicht in ganz hohen Positionen. Das Buch ist damit ein Gegenentwurf zu Werner Bräunings „Rummelplatz“, der die gleiche Geschichte zumindest bis 1953 erzählt, aber im wahrsten Sinne des Begriffs von ganz unten.
Wo aber Bräuning Szenen lebendig darstellt und die Charaktere plastisch hervortreten lässt, pflegt Hein eine staubtrockene, protokollarische Sprache. Diese wöchentlichen Friedensgebete waren Jahre zuvor auf Wunsch junger Christen vom Kirchenvorstand eingerichtet worden, um gegen die Aufrüstung des östlichen und des westlichen Militärbündnisses zu protestieren. So geht das über Seiten. In einem Roman.
Der Vergleich zu „Rummelplatz“ drängt sich gerade bei den Feiern zur Gründung der DDR und der Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 auf. Beide Autoren stellen diese zwei Ereignisse dar, der eine miterlebbar, der andere aus der Distanz eines Archivars. Zusätzlich blockt Hein die Lust am Weiterlesen ab, indem er in den Zwischenüberschriften wie „Von Liebe ist nicht die Rede“ oder „Eine Maske fällt“ den Inhalt des folgenden Abschnittes schon zusammenfasst – das Gegenteil eines Cliffhangers.
Thema des Buches ist die miserable Bildung der führenden Funktionäre von Partei und Staat, allen voran Walter Ulbricht, und eine daraus resultierende Feindschaft gegen alles Intellektuelle als einer der Gründe, warum diese Gesellschaft zwangsläufig scheitern musste. Das gelingt Christoph Hein. Allerdings wäre dies auch mit einem Sachbuch möglich gewesen.
Unsympath Johannes Goretzka und seine Frau Yvonne, die Kathinka als uneheliches Kind in die Zweckehe einbringt, sind ausgesprochen eindimensionale Charaktere. Der Parteisoldat verbittert, weil er trotz unbedingter Linientreue mit zweitrangigen Funktionen abgespeist wurde. Seine Frau, die dank der Liaison von der Bürokraft zur stellvertretenden Zensorin für Kinderfilme aufsteigt, ist das Klischeebild der Opportunistin, die alles dafür tut, sich teure Schuhe, später dann auch viel Essen und Alkohol leisten zu können.
Sogar die rebellische Kathinka bleibt im Roman farblos. Mehrfach wiederholt sich fast wortgleich die Formulierung, dass sie immer noch Klassenbeste ist, aber wegen ihres offenen Wesens trotzdem beliebt sei. Einzig Benaja Kukuck, der weltbekannte Intellektuelle, rundlich, witzig und schwul, ist eine Person, die sich der Leser vor dem inneren Auge vorstellen kann. Die anderen bleiben vorläufige Entwürfe von Protagonisten.
Dass bei einem Zeitraum von fast 50 Jahren ein Zeitraffen notwendig ist, soll es kein mehrbändiges Werk werden, ist logisch. Doch zum Ende hin werden die Sprünge immer größer, als hätte der Autor die Lust am Stoff verloren, wollte nur noch fertig werden. Die 1970er Jahre sind praktisch auf den Putsch Honeckers gegen Ulbricht reduziert. Obwohl mehrere Personen eng mit der Kulturpolitik verbunden sind, werden die Erschütterungen um die Biermann-Ausbürgerung völlig übergangen.
Manche Dürftigkeiten hätte ein guter Lektor eigentlich anstreichen müssen. So steht einmal, dass Kathinka kurz vor dem Abitur ist und danach einen Beruf erlernen möchte, dann aber ist sie plötzlich in einer Berufsausbildung mit Abitur. Viele Politiker werden beim realen Namen genannt, einzig aus dem allseits bekannten Markus Wolf wird ein Markus Fuchs. Das könnte ein Mittel sein, um hervorzuhenen, dass es eben doch um künstlerische Freiheit gehe. Für die „Nicolaikirche“, die Hein aus der Nikolaikirche macht, kann man das aber schwer anerkennen. Seltsam ist auch der einige in der Rolle eines Ich-Erzählers eingefügte Kommentar zu der im Grunde genommen überflüssigen Passage mit der Tochter Ulbrichts. Und regelrecht falsch ist die Behauptung, der P 70 hätte eine Karosserie aus Duroplast gehabt, weil man in der DDR keine Pressformen für Blechkarosserien fertigen konnte. Ein Recherchefehler.
Wie schon beim vorherigen Buch, das ich gelesen habe, wird auch mit „Das Narrenschiff“ ein wichtiges Thema in den trockenen Sand gesetzt. Bei Christoph Hein überrascht mich das, da ich in den letzten vier Jahrzehnten einige Bücher von ihm gelsen habe und solch eine dürftige Leistung nicht erwartet hatte.