Continuum

2013-continuum

David O`Kane, ‚Continuum‘, jede Tafel 160 x 200 cm, Öl auf Leinwand, 2013, veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

Ein rechteckiges Fenster ohne Rahmen. Das nächste. Noch eins. Und so weiter. Wie ein Schienenstrang ratternd. Hochsitzend über der nackten grauen Wand. Wir sind in eine Lagerhalle geraten. Die hier gestapelten Güter sind Ideen. Unbezahlbar.

Zentral ein Tisch. Oder so. Beine sind verzichtbar. Hat Leonardos Abendmahltisch etwa Beine? Die Platte glänzt wie polierter Stahl. Oder wie ein See ganz früh am Morgen, vor dem ersten Windhauch. Zeit für ein Spiel.

Das ist keine Lagerhalle. Es ist eine Bühne, sieht man doch. David O´Kanes Arbeiten sind immer Bühnen. Die Stücke, die hier gespielt werden, hat er in einem Dubliner Antiquariat gekauft. Mehrere Vorbesitzer haben Änderungen im Text vorgenommen. Auch er arbeitet mit dem Bleistift an den Manuskripten. O´Kane ist ein Spieler.

Zwei Hauptdarsteller haben die Szene betreten. Zwei steht für Harmonie, für Balance. Die blonden Jungen sind Brüder, aber keine Zwillinge. Einer größer, der andere kleiner.

Das Böse ist gerade, die Wahrheit ist eine ungerade Zahl, und der Tod ist ein Punkt. Schreibt Flann O´Brien. Ooops, das tut weh.

Die Galerie hat zwei Karten drucken lassen, handlich wie typische Postkarten. Auf der einen der linke, rote Junge, auf der anderen der rechte, blaue. Man kann die Karten so legen, dass die Knaben sich den Rücken zukehren. Man kann sie „richtig“ legen und zusammenschieben. Die Perspektive stimmt noch. Die Platte hat nun normales Ping-Pong-Format. Verlust der Mitte?

Der Maler hat ein Mittelstück eingefügt. Gewinn der Mitte. Eine ungerade Zahl, nahe der Wahrheit. Keine weitere Person tritt auf. Nur die Platte erfährt eine Verlängerung. Extended version. Das Spiel wird etwas anstrengender, vielleicht auch aufregender. Über der glänzenden Oberfläche hängt auch hier eine Pflanze, doch von anderer Spezies als die beiden Strünke der Seitenflügel. Jene dürfen aufrecht hängen, diese kopfüber. Strafverschärfend. Sowieso Unkraut. Kann weg.

Altäre, Orte der Anbetung, sind dreifaltig. Vater, Sohn, Geist. Lassen wir links den Hl. James Platz nehmen, mittig den Hl. Samuel, rechts den Hl. Flann. Doch gerade als der Hl. David sie malen will, verziehn sich sich auf ein Guinness in den Pub nebenan, lassen ihre Doppelgänger zurück. Aber auch die gehen trinken, eh noch die Grundierung trocken ist. Irland ist eine Insel, umspült von Liquidität.

Unter der Platte tropft es. Ach was, es plätschert. Die Pflanzen transferieren ihren Lebenssaft an die Basis. Die Jungs stört das Feuchte nicht, Mutter hat ihnen festes Schuhwerk mitgegeben. Das Kraut ist aus dem inneren Gleichgewicht. Die Kinder bringen Kreisel zum Drehen. Muster der Balance.

Das Mysterium des Kreisels. Der Statik zum Trotz steht er auf der Spitze. Jedenfalls solange die eingegebene Energie für die Drehung reicht. Dynamik dominiert über Statik. Dann kommt das Trudeln, der Fall. Statik.

Die Drehung macht es. Urform der Wiederholung. David O´Kane schätzt Wiederholungen. Er ist Maler. Er macht Filme. Er malt Filme. Bild für Bild. Immer ein Stückchen Verschiebung, einen Dreh weiter. Gezeichnet, gemalt. Erst das Kontinuum des Films bringt Bewegung. Tack, tack, tack. Wie ein Schienenstrang, wie eine hochsitzende Reihe gleicher Fenster. Doch der Endpunkt ist der des Anfangs. Kein Ziel. Ein Loop.

Die Wiederholung gibt die Möglichkeit, neu anzusetzen. Zurück auf Start. Bei der nächsten Runde wird nicht alles besser, aber anders. Oder es sieht wieder so aus, wie gehabt. Sonst beginnt das Trudeln.

Die Negation der Negation ist ein allgemeines Grundgesetz der materialistischen Dialektik. Diesem Gesetz zufolge ist Entwicklung als die ständige Negation von bestehenden Qualitäten zu verstehen, welche bei einer erneuten Negation die ursprüngliche Qualität auf einer höheren Ebene erreicht. Sagt die allwissende Wikipedia, sich auf Friedrich Engels berufend, der sich auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel beruft. Negation der Negation.

Die Jungs haben ihre Rolle nicht gelernt. Es ist keine Rolle, die jemand aufgeschrieben hat. Sie spielen nicht. Natürlich spielen sie. Wie immer, jeden Tag. Doch das ist keine Rolle. Das Drehbuch ist in einem Dubliner Antiquariat verschollen. Der Händler hat es mit in den Pub genommen, einen Bleistift hinter das Ohr geklemmt, um Änderungen einzuarbeiten. Dann kamen da drei Heilige. Aus war´s. Macht nicht´s. Die Jungs kennen den Text, ohne ihn gelesen zu haben.

Präzision kennzeichnet O´Kanes Bilder, Präzession kennzeichnet den Kreisel. Die Drehachse wird instabil, neigt sich, wandert. Jede Drehung ein anderer Zustand. Wiederholung und Abstand. Dann Stillstand. Bis zum nächsten Level.

Die Jungs werden morgen wiederkommen, mit Kreiseln spielen auf einer glänzenden Platte. Ohne Gedanken über die Berechnung des Drehmoments. Sie wollen nur spielen. Im Ernst.

I got you babe… trällern Sony & Cher aus dem Radiowecker.

Die Jungs werden morgen wiederkommen. Mutter hat die Botten gewienert, den blauen Pullover und das rote T-Shirt gewaschen. Vater hat in der Wikipedia einen Artikel über Kreiselgesetze gelesen.

Es hat doch keinen Sinn, Phil Connors, den Radiowecker zu zerdreschen!

Die Jungs werden morgen wiederkommen. Der Ausstatter wird neue Pflanzen aufgehängt haben. Die heutigen sind verwelkt, liegen auf dem Kompost, werden zu Erde, aus der frische Pflanzen wachsen. Unkraut. Kein Kraut per Definition. Ein Unwort schweigt, der Unsinn ist doof, die Untiefe flach. Das Unkraut ist so saftig wie Bio-Spinat. Doch nein, das darf es nicht sein, es ist un. Un heißt: es soll halt nicht sein. Andererseits: Un-Kraut ist für einen angelsächsisch Sozialisierten ein Un-Deutscher. Auch was wert.

Die Jungs kommen wieder. Sie sind Iren.

Alles ist im Fließen, alles ist im Geh´n. Sterne rasen auch wenn wenn wir sie stehen seh´n. Singt die Klaus-Renft-Combo.

An der Tafel nehmen der Hl. Jean Baptiste Simeon, der Hl. Juan und der Hl. Neo Platz. Korrektur: Letztgenannter kann grad nicht, muss Bestellungen abarbeiten. JBS versucht erfolglos dem roten Jungen den Kreisel zu entwenden, Juan sucht nach Schnüren, an denen das Gemüse baumelt. Das Böse ist gerade, das Gute ungerade. Wo bleibt bloß der Vielbeschäftigte? Der Dreier ist keiner. Böse, böse.

Kommt ein Kunstkenner des Weges und sagt: Das ist doch Surrealismus! Ein zweiter Kunstkenner, der sich bisher im Hosenaufschlag des ersten versteckt hatte, springt heraus und empört sich voller Pathos: Von wegen Surrealismus! Sieh dir doch bloß mal diese Wurzeln an, wie tief die reichen! Barock! Manierismus! Renaissance! Beide in Hassliebe verbundenen Kunstkenner zücken ihre Stempel, schütteln das Stempelkissen auf. Los geht das lustig-aggressive gegenseitige Abstempeln. Selten so gelacht.

Zwischen den Auftritten existieren die blonden Kinder nicht. Nur in der Erinnerung. Und in der Voraussicht. Natürlich existieren die blonden Kinder, leben in O´Kanes Familie. Doch die Kinder des Bildes existieren nur mit dem Bild, in dem Bild. Das ist ihre Rolle, die sie können, ohne die sie nichts sind. Die sie nicht studiert haben, die sie einfach können. So wie der Maler eben ein Bild malen kann. Ach Quatsch, der hat ja studiert. Blöder Vergleich.

Sie kommen wieder, die Jungs, aber sind nicht mehr die gleichen. Man kann nicht zweimal im gleichen Bild sein. Man kann nicht zweimal die gleiche Rolle spielen bzw. zweimal die Rolle gleich spielen. Der Kreisel zieht nie die gleiche Bahn. Präzession, Sie wissen schon.

Ich freue mich, dich wiederzusehen. Ich dachte du wärst weg für immer. Sagt Wladimir. Ich auch. Sagt Estragon.

Der Betrachter wird die Änderungen nicht erkennen. Er denkt, es sei noch dasselbe Bild wie gestern. Ist es nicht. Der Firnis ist zwar nicht spürbar nachgedunkelt, die Komposition stimmt immer noch, das Licht, der Raum. Aber es ist nicht mehr dasselbe. Jede Drehung des Kreisels verschiebt den Ausgangspunkt unmerklich.

Der Tod ist ein Punkt.

Alle wieder auf ihre Plätze, hab ich gesagt! Wir drehen.

In der Leipziger Spinnerei werden kräftige Scheinwerfer einer Film-Crew angeworfen. Die Tore einer Lagerhalle öffnen sich. Zwei Kinder staunen über das Eingelagerte, Unbezahlbare. Das ist ihre ewige Rolle.

Play it again Sam. Play it for Hank, play it for me.

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