Die perforierte Schrumpfung

 

 

Rumpfköpfe

 

Wir schrumpfen. Nicht in jedem Falle persönlich. Trotz meines fortgeschrittenen Alters jenseits der 40er-Schallmauer und der kürzlich erfolgten radikalen Beschneidung der Fülle an Kopfhaar zeigen neueste Messungen immer noch eine Übereinstimmung mit den polizeilich registrierten 183 Zentimetern Körpergröße. Bezüglich des Gewichts kann von einer Schrumpfung leider gar nicht die Rede sein. Aber es geht nicht um mich, sondern um die Gesamtbevölkerung. Obwohl heute nicht mehr so viel wie in den siebziger Jahren von Akzeleration gesprochen und geschrieben wird, ist aber hier nicht die Vermaßung und Gewichtung der Individuen gemeint, sondern die schiere Anzahl registrierter Köpfe pro deutscher Flächeneinheit.

Bei näherer Betrachtung stimmt auch diese Bestimmung linguistisch in keiner Weise. Schrumpft etwa ein Swimmingpool, aus dem man einen Teil des Wassers abläßt? Mitnichten. Für einen Fußball, dem die Luft ausgeht, mag die Metapher ja noch funktionieren. Das liegt aber an der Flexibilität des Hüllmaterials und dem existenziellen inneren Druck. Dieser wird zwar in großem Maße durch die Zahl der eingepferchten Luftmoleküle bestimmt, aber auch die Temperatur spielt eine Rolle. Demgemäß müßte eine Stadt wie Chemnitz dank des Klimawandels mit steigenden Durchschnittstemperaturen den anhaltenden Einwohnerschwund locker durch gesteigerte Brownsche Molekularbewegung der Dagebliebenen kompensieren können, ohne über den Verlust an Spannkraft zu lamentieren. Weil aber die Bleibenden häufig die sind, die ohnehin nicht mehr so locker umherspringen, ist es nicht so. In der Analogie zu den Nuklearteilchen müßte man dies vermutlich mit unterschiedlichen Bindungswertigkeiten der jeweiligen Atome erklären. Bleiben wir lieber am Schwimmbecken. Es schrumpft nicht, auch wenn der Stöpsel undicht ist oder gar abhanden kommt. Der Beton steht, kann Risse kriegen und unansehnlich werden, aber kaum kleiner.

Das Wort „schrumpfen“ wird allerdings im heutigen Sprachgebrauch direkt mit einem Rückgang der Fläche oder des Volumens verbunden. Chemnitz ist jedoch in den letzten Jahren wie all die anderen ostdeutschen „Schrumpfstädte“ durch extensive Eingemeindungen so aufgequollen, wie seit vier Jahrzehnten nicht.

Um die Niederungen der Vulgärphilologie zumindest zeitweilig zu verlassen, hilft es mitunter, im „Herkunftswörterbuch“ des Duden-Verlages nachzuschauen. Daß „schrumpfen“ etymologisch mit „schrumpeln“ und „rümpfen“ verwandt ist, konnte ich schon erahnen. Schmeichelhaft sind solche Verschwägerungen aber nicht, auch wenn unbestreitbar Kommunalpolitiker und andere Zuständige tatsächlich die Nase rümpfen angesichts der schier unaufhaltsamen Abwanderung. Aber „Rumpfstadt“ oder „Schrumpelstadt“ sind auch nicht treffender und nicht korrekter als die fast schon gewohnte Bezeichnung der „Schrumpfstadt“. Vor allem sind sie noch weniger Balsam für die Seele der Schrumpler. Das zeigen schon weitere Verweise im Wörterbuch auf Harfe und Harpune, die mit einem Zusammenkrümmen in Verbindung stehen sollen, was zumeist schmerzhaft ist oder von Schmerz ausgelöst wird.

 

Die süße Kleine

 

Dem Einwohnerrückgang kann man mit etwas Motivation aber durchaus Gutes abgewinnen. Größe ist ja nicht immer ein Zeichen von Qualität. Staaten wie Dänemark oder die Niederlande scheinen zumindest bei oberflächlicher Betrachtung recht zufrieden zu sein mit ihrer Kleine, während Giganten wie Rußland, Indien oder China an der Ausdehnung zu scheitern drohen.

Die an der TU Chemnitz tätige Stadtsoziologin Christine Weiske brachte die eventuellen Potenzen des Verlustes mit der Formulierung „Shrink positive“ auf den Punkt. Leider ist das Englische nötig, um solche griffigen Slogans zu prägen. Im Deutschen wäre die Lautähnlichkeit zu „schrumpf“ wohl „dumpf“. Dem etwas Positives zu entlocken, fällt selbst permanenten Optimisten schwer.

Was tun also Städte wie Chemnitz? Sie schrumpfen nachweislich nicht, sie schrumpeln nicht, sie rümpfen und krümmen sich nicht. Sie verlieren Einwohner. Verlierer-Stadt? Oder zeitgemäß ausgedrückt Loser-Stadt? Dann geht die Aufforderung „Shrink positive“ aber eindeutig ins Leere.

Als Alternativ-Angebot wird seit einigen Jahren der Begriff „perforierte Stadt“ gehandelt. Die Kommune bekommt also Löcher. Dazu hätte sie zuvor ein kompaktes Gebilde sein müssen. Bis zum Fall der Ummauerungen war sie das auch weitgehend. In Chemnitz liegt das Schleifen der Befestigungen und die damit einhergehende Entgrenzung fast zweihundert Jahre zurück. Das entstandene ringförmige Loch wurde zunächst begrünt, dann aber schon bald zugebaut. So rasant das Stadtwachstum zumindest ab der Gründerzeit auch verlief, löchrig war es immer. Abgesehen von den verschonten Refugien dörflich geprägter Vororte und solcher Grünflächen wie Küchwald und Zeisigwald wurden die dichtbesiedelten Quartiere schon bald planvoll gelocht. Der 1859 angelegte Schillerplatz machte nur den Anfang, er bekam später viele Geschwister.


wallanlagen
Die Darstellung von 1841 zeigt das Areal der geschleiften Befestigungsanlagen von Chemnitz, das teilweise schon neu bebaut ist.

Spätestens seit dem 2001 als Entwurf vorgelegten und ein Jahr später mit Änderungen verabschiedeten „Integrierten Stadtentwicklungskonzept“ ist die weitergehende Perforation sanktioniert worden. Vor allem in den ausgedehnten Plattenbaugebieten, aber auch in innerstädtischen Lagen sollen die Abrißbirne oder ihre zeitgenössischen Nachfahren Freiräume schaffen. Freiräume – frei wovon? Zunächst von massiven, raumgreifenden Bauten. Vielleicht später auch frei von Menschen? Wohl kaum. Paradox an der staatlich geförderten Vernichtungsorgie ist, daß zeitgleich der Neubau von Eigenheimen gleichermaßen gefördert wird, laut Integriertem Stadtentwicklungskonzept sogar auf Flächen, die zuvor mit Fördermitteln von vorhandenen Wohnbauten befreit wurden. Zugleich belohnt die rot-grüne Berliner Regierung die Stadtflüchter mit einer sogenannten Entfernungspauschale, für die eine Kritikerin die treffendere Bezeichnung Zersiedlungsprämie geprägt hat. Die frisch novellierte Fassung dieser Pauschale ist dabei nicht mehr als eine kosmetische Korrektur.

Der ganze Prozeß wird ohnehin von Sprachhülsen oder Sprachlügen begleitet. „Rückbau“ und „Stadtumbau“ sind die beliebtesten davon. Rückbau meint eigentlich die Reduzierung von Bauvolumen bei gleichzeitiger Umgestaltung. Das geschieht partiell. Aber nicht nur in den Medien, auch in offiziellen Dokumenten wird häufig der Totalabriß von Gebäuden mit Rückbau verbrämt. Auffällig ist jedenfalls, daß hier das Abreißen von Gebäuden und die Abreise von Einwohnern in einem kausalen wie auch sprachlichen Zusammenhang zu stehen scheinen. Jedenfalls wird die Stadt rissig.


rueckbau
Rückbau eines Plattenbaublocks durch die kommunale Wohnungsgesellschaft.

 

Durch dick und dünn

 

Perforiert ist also kein treffendes Wort für den laufenden Prozeß. Vielleicht „verdünnt“? Positive Assoziationen lassen sich auch mit dieser Bezeichnung kaum verknüpfen. „Entgrenzt“? Das ist sie schon seit zwei Jahrhunderten. Neu ist nur das Phänomen des Speckgürtels. Spektrum – das Lieblingswort der Dicken! Die es sich leisten können, oder auch nicht (verlockt durch betrügerische Werbung der Bausparkassen) ließen und lassen sich ein sogenanntes Häuschen im Grünen montieren – dicht auf dicht, mit weniger Grünfläche rundrum als in manchen innerstädtischen Wohnlagen. Die aktuelle Fernsehwerbung eines derartigen Finanzunternehmens suggeriert die unstimmige Alternative: Ewig bei Mutti wohnen oder ein Haus bauen (lassen). Wie un-cool, angesichts des Überangebotes an Mietwohnungen.

Negativ-Kennzeichnungen für den Zustand, daß viele Städte zwar flächenmäßig wachsen, gleichzeitig aber Einwohner verlieren, finden sich ausreichend. Treffend sind sie aber alle nicht.


eigenheimsiedlung
Eigenheimsiedlung in ländlichem Umfeld südlich von Chemnitz.

 

Statt der Stadt

 

Vielleicht liegt das linguistische (und sachliche) Problem ja darin, daß es vergeblich ist, nach sinnvollen Attributen zum Objekt „Stadt“ zu suchen, weil sich eben jene Stadt aufgelöst hat. Sie ist nicht mehr greifbar, nicht mehr sinnlich erfaßbar. Somit wäre nicht nach einem passenden Attribut zu suchen, sondern nach einer treffenderen Bezeichnung für das Objekt (das in gewissem Umfang auch Subjekt ist). „Stadtschaft“ als Korrelativ zu „Landschaft“ ist schon lange gebräuchlich. Das tradierte Gegenstück wäre aber das „Dorf“ oder das „Land“ (im Sinne von ländlich). Historische Unterscheidung zwischen Stadt und Land sind in erster Linie die Ummauerung, daneben aber auch das Marktrecht und bestimmte an den Stadt-Status geknüpfte Privilegien, unter anderem zum Brauen und Verzapfen von Bier. All diese Unterscheidungsmerkmale sind schon im 19. Jahrhundert verschwunden. Auch die schiere Größe hilft zur sachlichen und damit sprachlichen Trennung nicht weiter. Jöhstadt im Erzgebirge hat heute ca. 3.400 Einwohner, Düsseldorf im Rheinland aber 570.000. Jenseits dieser durch historische Entwicklungen hinfällig gewordenen Benamungen ist es aber ein Fakt, daß beispielsweise in meiner Heimat, der dichtbesiedelten Oberlausitz, viele in verwaltungstechnischem Sinne trotz des auch dort grassierenden Verschwindens von Bewohnern als Dörfer geltende Kommunen weit mehr als 10.000 registrierte Bürger haben, Zahlen also, von denen viele Städte in Mecklenburg nur träumen können.

Name-Stadt-Land. Das Spiel rotiert auf der Stelle. Wir sind sprachlos angesichts einer Entwicklung, welche die mit der Industrialisierung eingeleiteten Prozesse konterkariert und doch keine simple Umkehrung darstellt. Dörfer herkömmlicher Art gibt es zwar in Rudimenten noch, Städte aber nicht mehr. Der im 19. Jahrhundert geborene Begriff Großstadt drückt den Verlust schon aus, wenn auch noch in einem dynamischen, bejahendem Sinne. Schon diese Großstädte waren Konglomerate, in denen manche eingemeindeten Vororte teilweise ihren ländlichen Charakter bewahren konnten, andere aber vor der Einverleibung selbst Städte waren. Das Ruhrgebiet ist ein Extrembeispiel für das historische Verschwinden der Stadt als definiertem Gebilde. Aber auch der sehr dicht besiedelte Chemnitzer Raum hatte die Potenzen zu dieser Verschmelzung kompakter Siedlungslandschaften. In den 1920er Jahren gab es ernstgemeinte Planungen für die Millionenstadt Chemnitz.

Die wuchernden und verschlingenden Großstädte jammern nun über den Umstand, daß die Einwohnerzahlen (fälschlicherweise häufig als wichtigstes Kriterium für Prosperität angesehen) rückläufig sind. Hektische Eingemeindungsbewegungen ändern nichts daran, sondern verschärfen nur die Disproportionen zwischen Fläche und Bewohnerzahl. Ernster zu nehmen ist hingegen die staatlich gesteuerte Umverteilung finanzieller Mittel für bestimmte Lebenssphären wie Bildung oder Kultur. Während der Unterschied von Stadt und Land optisch verschwindet, wird er durch solche administrativ verordneten Konzentrationen (die sich sprachlich in Gebilden wie Oberzentrum, Mittelzentrum oder Große Kreisstadt niederschlagen) künstlich gestützt. Der Plan des sächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur, möglichst alle staatlichen Kultureinrichtungen des Freistaates in Dresden zu bündeln, ist ein extremer, aber typischer Ausdruck für die Tendenz, den Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie per definitionem zu retten. Zeitweilig mag diese an tradierten Begrifflichkeiten der Wirtschaftsgeografie festhaltende Politik erfolgreich sein. Sie wird aber auf Dauer nichts am Verlust treffender Bezeichnungen für die laufenden Prozesse ändern.


animation stadtentwicklung
Schematische Darstellung verschiedener Entwicklungsstufen der Stadt und zugeordneter Begriffe. (269 kB)

Der Disput darüber, ob unsere Städte schrumpfen, perforieren oder ausdünnen, ist unnütz. Sie lösen sich auf. Seit einigen Jahren ist es modisch geworden, verschiedene Organisationen bis hin zu parteiähnlichen Wählergemeinschaften mit dem vermeintlichen Schreibfehler „Statt“ zu etikettieren. Jenseits aller Effekthascherei steckt da etwas Wahres drin. Statt der Stadt haben sich andere Gebilde des menschlichen Nebeneinanders etabliert. Doch selbst dieses Wortspiel funktioniert nicht angesichts der aktuellen Umbrüche. „Statt“ als Bezeichnung für einen Standort, eine Stätte also, ist viel älter als die neuzeitliche Stadt. So werden wir wohl vorläufig wortlos oder ungenau umschreibend bleiben, wollen wir über unsere kommunalen Defizite berichten. Nicht wir Individuen schrumpfen, sondern unser Ausdrucksvermögen und zugleich die Handlungsfähigkeit bezüglich unerwarteter Vorgänge.